CRASH - Ins falsche Leben: Roman (German Edition)
soweit er wusste, als Letzten gesehen hatte – bevor das alles geschah. Alex war sicher, dassdieser Abend im Dezember der Schlüssel dazu war, und David war der Hüter des Schlüssels. Es war die komplizierteste und wichtigste E-Mail , die Alex jemals würde schreiben müssen. Zum einen glaubte David höchstwahrscheinlich nicht, dass die Mail von Alex kam. Wenn Mums Kollegin offenbar gute Gründe dafür hatte, seine Identität anzuzweifeln, dann mochte es bei David nicht anders sein. Nicht nur, dass Kath-oder-Kathy seine Stimme nicht erkannt hatte, er hatte deutlich gespürt, dass noch etwas
anderes
dahintersteckte. Vielleicht war »Alex« entführt und irgendeinem abgefahrenen psychologischen Experiment unterzogen worden. Vielleicht hatte dieser andere Alex, derjenige, den er zurückgelassen hatte, einen Nervenzusammenbruch erlitten – nach dem Körpertausch war Flip als Alex aufgewacht und total ausgerastet; hatte buchstäblich den Verstand verloren und hockte jetzt irgendwo in einer Gummizelle. Vielleicht … aber es gab jede Menge möglicher Erklärungen, eine so verrückt wie die andere.
Da Alex wusste, wie David tickte, musste er auf jeden Fall behutsam vorgehen. Seinen Freund ködern. Vor allem musste er die Nachricht so formulieren, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich von
ihm
stammte, größer war als die Wahrscheinlichkeit, dass nicht.
Deshalb wollte er nicht gleich mit Geschichten über Körpertausch und Seelenwanderung ins Haus fallen; kein Hinweis darauf, wer er war und wo er sich gerade befand; kein Hilferuf; keine Fragen nach »Alex« und demfehlenden halben Jahr; keine Nachricht an seine Eltern. David war viel zu vernünftig, als dass er glauben würde, man könne als jemand anderer aufwachen. Wer würde so etwas überhaupt glauben?
Das alles konnte warten, bis Alex Davids Vertrauen gewonnen hatte.
Stattdessen schrieb er Folgendes: eine Zusammenfassung der Schachpartie, die sie an jenem Freitagabend vor einem halben Jahr in Davids Zimmer gespielt hatten, die in Alex’ Erinnerung jedoch erst ein paar Tage her war. Außerdem eine präzise Schilderung der Eröffnungszüge und der letzten Züge der Partie. Das war alles. Bloß Schach.
Mit Ausnahme von David selbst konnte nur ein einziger Mensch auf der Welt diese Mail verfasst haben.
Alex las sie noch einmal durch. Dann klickte er auf »Senden«.
Als er ins Klassenzimmer der 9b zur morgendlichen Anwesenheitskontrolle schlenderte, war er geistig immer noch bei seiner Mail. Er war spät dran, aber Miss Sprake war auch noch nicht da. Alex schob sich auf den erstbesten freien Stuhl. Kaum saß er, stand auch schon ein Mädchen neben seinem Tisch. Donna? Billie? Ein Mund senkte sich an sein Ohr und jemand flüsterte: »Gestern bist du mir aus dem Weg gegangen, hast meine SMS nicht beantwortet und nicht angerufen. Heute kommst du einfach so rein, ignorierst mich total und setzt dich zu Ulf, dem grässlichen Nägelkauer.«
Alex warf einen Blick auf seinen Tischnachbarn. Die Ähnlichkeit mit einem nordischen Troll war so verblüffend, dass er beinahe losgelacht hätte. Das Mädchen dagegen, wer immer sie sein mochte, war in keiner Weise trollähnlich. Mit ihren feucht schimmernden dunklen Augen und der olivfarbenen Haut wirkte sie irgendwie südländisch. Sie duftete nach Kokosnuss. Auf der Crokeham Hill hätte ein solches Mädchen Alex gar nicht wahrgenommen, geschweige denn mit ihm gesprochen.
Aber hier war nicht Crokeham Hill. Und er war nicht »Alex«.
Ob er sich nun als Flip selbstbewusster fühlte oder rücksichtsloser oder ob er einfach nur die Gelegenheit beim Schopf packte, konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Jedenfalls war das Gesicht des Mädchens nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Alex küsste sie. Es war ein richtiger, ordentlicher Kuss.
Jedenfalls sollte es einer werden, doch in diesem Augenblick kam Miss Sprake herein und das Mädchen verschwand, als hätte sie der Luftzug von der Tür davongeweht.
»Alles zu seiner Zeit, Donna, Philip«, sagte die Lehrerin. »Alles zu seiner Zeit.«
Donna machte in der ersten Pause Schluss mit ihm (
du glaubst, du kannst erst so mit mir umspringen und mich dann einfach küssen …
), dann schickte sie ihm zu Mittag eine SMS, sie hätte es nicht so gemeint und ob sie sich nach der Schule im Park treffen könnten? Bitte. Siemüssten unbedingt reden (
du kommst mir so fremd vor, Flip
). Alex hatte keine Ahnung, welchen Park sie meinte. Er schrieb zurück, dass er
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