Crash: Thriller (German Edition)
die getäfelte Decke anstarrte. Sie kannte seine ganze Vorgeschichte – dass sein Vater ein Säufer gewesen war, dem seine Mutter ängstlich aus dem Weg ging, dass er selber eine Zeit lang zum Alkoholiker geworden war –, und sie versuchte nicht, es unter den Teppich zu kehren. Stattdessen versuchte sie, es zu verstehen, weil es zu ihm gehörte. Sie konzentrierte sich mit der gleichen Intensität auf ihn, mit der sie sich der Physik zuwandte. Sie betrachtete das Problem aus jeder Perspektive und ruhte nicht, bis sie es gelöst hatte.
Nach einer Weile wandte sich David von ihrem Bett ab und schaute aus dem Fenster. Die Mauern der Altstadt wurden allmählich heller, während die Sonne aufging. In der Nähe des Krankenhauses pickten sich mehrere Spatzen durch einen Rasen, der mal grün gewesen war, und als David sich die Vögel anschaute, dachte er wieder an Michael. Das Wunderbarste, das David in den vergangenen zwei Jahren hatte beobachten dürfen, war vielleicht das Verhältnis, das sich zwischen Monique und dem Teenager entwickelt hatte. Obwohl sie auch in letzter Zeit unglaublich viel zu tun hatte, sich um eine anspruchsvolle einjährige Tochter kümmern musste, während sie an der Columbia forschte und lehrte, fand sie immer noch Zeit für Michael. Sie hatte ihm eine ganze Bibliothek von naturwissenschaftlichen Büchern gegeben, von einer Einführung in die moderne Physik bis zu den Grundlagen der Stringtheorie . Beim Abendessen fragte sie den Jungen gerne ab, um festzustellen, wie viel von seiner Lektüre bei ihm hängen geblieben war. Und tagsüber schickte sie ihm E-Mails aus ihrem Büro, die jeweils ein schwieriges Problem aus der Geometrie oder der Infinitesimalrechnung formulierten, mit denen Michael freudige Stunden verbrachte, bis er sie gelöst hatte. David fühlte, wie seine Beklemmung wuchs, als er an diese Botschaften dachte. Sie mussten den Jungen finden. Das mussten sie unbedingt.
Er saß weitere zehn Minuten neben dem Fenster und starrte auf die uralten Hügel Jerusalems. Dann hörte er ein Klopfen an der Tür. Er schrak auf seinem Stuhl zusammen, weil er halb damit rechnete, Männer in schwarzen Uniformen in das Zimmer stürmen zu sehen. Obwohl er wusste, dass das Krankenhaus voller Soldaten war, die den Auftrag hatten, sie zu beschützen, war er immer noch ein bisschen nervös, als er aufstand. Auf Zehenspitzen ging er um das Bett herum, um Monique nicht aufzuwecken, und öffnete die Tür einen Spalt.
Lucille stand im Gang und hielt einen Aktenordner unter dem Arm. Statt ihres knallroten Kostüms trug sie ein kanariengelbes Jackett mit dazu passendem Rock. Agent Parker war ein großer Fan der Primärfarben.
»Wie geht es ihr?«, flüsterte Lucille und reckte den Hals, um in das Zimmer sehen zu können. »Macht sie Fortschritte?«
Ihr texanischer Akzent war ein bisschen stärker als normal, und ihr Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen. Mit ihrer Reaktion auf die Schießerei hatte sie David vollkommen überrascht – er hatte angenommen, dass Lucille wütend auf sie sein würde, weil sie auf eigene Faust in die Jeschiwa gegangen waren, aber sie hatte kein Wort der Kritik geäußert. Im Moment zumindest hielt sie sich mit Beschuldigungen zurück. Sie stand rückhaltlos hinter ihnen, zeigte Anteilnahme und Unterstützung. Es war schwer vorstellbar, aber David hatte den Verdacht, Monique und er seien Agent Parker ein wenig ans Herz gewachsen. Sie benahm sich, als wären sie ihre echten Partner.
Er trat hinaus auf den Gang und zog die Tür hinter sich zu. Er bemerkte, dass ein israelischer Soldat ungefähr zehn Meter entfernt Wache stand, aber im Übrigen war der Gang leer. »Es geht ihr viel besser. Als ich gestern Abend mit dem Arzt sprach, hat er gesagt, sie würden Monique vermutlich am Mittag entlassen.«
Lucille seufzte leise. Sie machte einen erschöpften Eindruck. »Ich verstehe immer noch nicht, wie das passieren konnte. Warum waren diese Dreckskerle überhaupt hinter Ihnen her?«
David sah sie im Geiste vor sich, die schwarz gekleideten Mörder, wie sie die Wendeltreppe in der Beit Schalom Jeschiwa hinunterkamen. »Ich glaube, sie waren auch auf der Suche nach Olam. Sie müssen von der Untersuchung des FBI erfahren haben, und dann haben sie beschlossen, uns nur für den Fall zu folgen, dass wir ihn finden.«
»Aber Sie und Reynolds gehören nicht zum FBI. Wie haben sie denn herausgefunden, dass Sie in den Fall verwickelt sind?«
Er zuckte mit den Achseln. »Das weiß ich nicht.
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