Crazy Moon
erste Frau. »Genau wie Mira Sparks. Aber ich sage dir, eines Tages wird sie völlig vereinsamt dort draußen enden. Sie wird immer verrückter werden und immer fetter . . .« – ihre Freundin lachte schnaubend auf, nach dem Motto: Du bist wirklich schrecklich, aber ich hänge trotzdem an deinen Lippen – ». . . und am Ende wird sie mutterseelenallein in dem großen alten zugigen Kasten verrotten.«
»Ach ja, es ist so traurig.« Die zweite Frau genoss das Gespräch in vollen Zügen.
»Sie hat es selbst so gewollt.«
Bevor ich überhaupt ihr Gesicht gesehen hatte, hasste ich die Frau bereits. Ich hasse jeden, der hinter dem Rücken eines anderen über denjenigen herzieht. An die Gemeinheiten, die einem jemand direkt ins Gesicht sagt, knallhart und unmissverständlich, hatte ich mich gewöhnt. Das war wenigstens ehrlich und damit irgendwie fairer.
Ich drehte mich wieder zu den Postfächern um und stopfte unsere Briefe in meine Tasche. Während ich voller Mitleid an Mira dachte, hörte ich hinter mir ein Geräusch und fuhr herum. Da sah ich es zum ersten Mal, das kleine Mädchen mit dem großen Kopf.
Ich erkannte sie sofort, Irrtum ausgeschlossen. Sie war ungefähr zwei und trug ein rosa Rüschenkleidchen sowie weiße Sandalen. Ihre spärlichen blonden Haare wurden von einem rosa Haarreif mit Schleife zurückgehalten, |85| wodurch ihr Kopf noch riesiger wirkte – falls das überhaupt möglich war. Sie hatte strahlend blaue Augen und starrte mich mit offenem Mund an, wobei sie sich mit beiden Händen an ihrem Rocksaum festklammerte.
Mannomann, dachte ich. Mira hatte Recht: Was für ein Mordsschädel! Die Kopfhaut war sehr hell, beinahe durchsichtig. Im Vergleich zu diesem Riesenei von Kopf wirkte der Rest des Körpers spielzeughaft winzig.
Sie stand einfach nur da und starrte mich an, wie Kinder das machen, bevor sie gelernt haben, dass so was unhöflich ist. Dann hob sie eine Hand und berührte ihre Oberlippe an der Stelle, wo ich gepierct bin. Ohne mich aus den Augen zu lassen ließ sie ihren Finger dort, einige Sekunden lang. Ich starrte zurück, ich konnte nicht anders.
Genauso plötzlich, wie sie aufgetaucht war, drehte sie wieder ab und wackelte um die Ecke. Ihre winzigen Schritte waren auf dem Kachelboden kaum zu hören.
Ich stand immer noch unbeweglich bei den Postfächern, als die beiden Frauen an mir vorbei zum Ausgang liefen. Die größere hielt das kleine Mädchen an der Hand. Mittlerweile redeten sie über jemand anderen, über Ehemänner, Scheidungen, Eigenheime und beachteten mich nicht.
Ich sah ihnen nach. Zwei Frauen um die vierzig in Shorts und Sandalen. Die Mutter der Kleinen hatte gewelltes blondes Haar und trug einen Pullover mit einem Muster aus kleinen Segelbooten. Die Glocke ertönte, die Tür fiel zu. Sie blieben auf dem schmalen Gartenweg vor dem Postgebäude stehen, redeten und lachten immer weiter. Zwischendurch grüßten sie eine alte Frau, die sich mit einer Gehhilfe die Stufen zum Postamt hocharbeitete. |86| Das kleine Mädchen rannte mit ausgebreiteten Armen zu dem niedrigen weißen Zaun vor dem Gebäude, an dem Rosen emporrankten, und wieder zurück zu seiner Mutter.
Egal, wie alt man war – Leute wie Caroline Dawes gab es überall.
Vom Fenster aus beobachtete ich, wie sie in ihre Autos stiegen und davonfuhren. Dann machte ich mich zu Fuß auf den Weg nach Hause, zu Mira.
»Na, was gibt’s Neues in der Welt?« Gut gelaunt sichtete sie ihre Post.
In meinem Kopf hallte die verächtlich klingende Stimme der Frau wider. Meine Kehle wurde trocken, ich lief rot an.
»Nichts.«
Sie glaubte mir und nickte bloß, bevor sie sich wieder vor den Fernseher setzte.
Beim Wrestling war alles so einfach und gerecht. Es gab die Guten, wie Rex Runyon, und die Bösen, wie die Bruiser Brothers. Manchmal gewannen die Bösen die Oberhand, aber nie lange, denn irgendwann stürzte immer ein Guter aus den Kulissen in den Ring und setzte den Bösen mit einem Stuhl außer Gefecht oder schmiss ihn über die Seile oder haute ihn zu Mus. Alles im Namen des Guten und der Gerechtigkeit.
Mira wusste vermutlich, dass alles Show war. Sie musste es einfach wissen, so naiv konnte sie gar nicht sein. Trotzdem freute sie sich, wenn die Bruiser Brothers für ihre Missetaten bezahlen mussten und mit gesenkten Köpfen kläglich von der Matte humpelten. Und nicht nur sie. Irgendwie wurde der Glaube an die Menschheit dadurch wiederhergestellt. Und es tat einfach gut, wenn |87| man wenigstens für kurze Zeit
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