Crescendo
die Tränen kamen, und blinzelte sie weg.
Sie warf ihr schmutziges Nachthemd in den Wäschekorb und stieg in die Wanne, ließ sich behutsam ins Wasser sinken, sodass die dicke Schaumschicht unter dem Verband an ihrer Schulter blieb. Die tieferen Bisse brannten, aber trotzdem fühlte sich das Wasser herrlich auf der Haut an, seidig und wohltuend. Sie sank noch etwas tiefer, bis der Verband den Schaum berührte.
Lange Zeit blieb sie einfach so liegen, während Wasser und Öle sich in die Haut arbeiteten, die Poren öffneten und reinigten. Als das Wasser langsam abkühlte, schrubbte sie sich gründlich um die Verletzungen herum, bis ihre Haut rosa war. Anschließend wusch sie sich mit großen Schwierigkeiten die Haare, shampoonierte sie zweimal ein und massierte sich einen Pflegebalsam ein, den sie tatsächlich ganze zehn Minuten einwirken ließ.
Sie fühlte sich wie neu geboren, als sie aus der Wanne stieg und zusah, wie das schaumige Wasser abfloss und einen schmierigen, grauen Film auf dem Email hinterließ, wofür sie sich richtig schämte. Überrascht stellte Ginny fest, dass sie sich besser fühlte als seit Tagen. Ihre Erkältung war verschwunden, und der Nachgeschmack ihres letzen Albtraums verflüchtigte sich. Ihre Mutter, die Gedankenleserin, klopfte an die Tür.
Ginny wickelte sich rasch ein Badetuch um und öffnete.
»Hier ist dein Kaffee. Hunger?«
Ginny merkte, dass sie tatsächlich Appetit hatte, auch das zum ersten Mal seit Tagen. Sie nickte.
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»Weißt du, worauf ich wirklich Lust hätte?«
Ihre Mutter lächelte. »Nein, worauf denn?«
»Rührei mit Toast und Schinken.«
Ihre Mutter machte ein langes Gesicht. »Mit Toast könnte ich dienen, aber gestern Abend hat dein Dad die letzten Eier mit Schinken gegessen.«
»Ist nicht schlimm.« Aber es war schlimm, Ginny fühlte sich betrogen.
»Sieh mich nicht so an, Schatz. Weißt du was, ich laufe rasch rüber zum Laden an der Ecke, während du dich an-ziehst.«
Ginny spürte ein angstvolles Ziehen im Bauch. Das hieß, sie wäre allein im Haus. Sie ermahnte sich selbst, nicht so albern zu sein. Ihre Mutter wäre ja nur ein paar Minuten weg.
»Es macht dir auch nichts aus?«
»Überhaupt nicht. Ich bin gleich wieder da, dann föhne ich dir die Haare und mache uns beiden ein verspätetes Mittagessen.«
Ginny hörte, wie ihre Mutter Schlüssel und Handtasche nahm und die Haustür fest hinter sich zuzog. Es war nur ein kleines Haus, und sie kannte alle seine Geräusche von Kindheit an. Sie löste das Badetuch und fing an, sich sparsam mit der Bodylotion einzucremen, schließlich war es die Lieblings-lotion ihrer Mutter.
Ein lautes Klicken ließ sie zusammenfahren. Sie lauschte absolut reglos, wie erstarrt, mit der Lotionflasche in der linken Hand. Das Haus war ruhig, die einzigen Geräusche waren das Brummen des Kühlschranks aus der Küche und das Ticken des Durchlauferhitzers. Vielleicht war das das Ge-räusch gewesen, das sie so erschreckt hatte, aber es hatte sich anders angehört, genauso, als würde die Hintertür zugezogen.
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Sie atmete langsam aus und stellte die Lotion weg, alle Freude am Luxus war dahin. Sie wurde sich ihrer Nacktheit unangenehm bewusst. Ihre Unterwäsche war noch immer im Schrank, aber sie zog sich trotzdem die Jeans an, lauschte dabei angestrengt auf das leiseste Geräusch. Alles ruhig. Sie zog den Reißverschluss langsam zu, fast lautlos. Ihr T-Shirt kam als Nächstes. Sie streifte es sich über den Kopf, fand es unerträglich, die Ohren auch nur eine Sekunde lang bedeckt zu haben, hielt dann wieder die Luft an und lauschte. Nichts.
Ihre Mum hatte die Badezimmertür nur angelehnt. Ginny schlich hin und legte die Finger auf die Klinke. Sie zog die Tür ein paar Zentimeter auf und spähte hinaus. Plötzlich hör-te sie die unterste Stufe der Treppe knarren, absolut unverkennbar. Da war jemand! Ihr Mund wurde trocken. Ohne die Augen von der Treppe vor ihr zu nehmen, tastete sie nach dem Türriegel und schloss die Finger darum, damit sie ihn sofort vorschieben konnte, wenn sie die Tür zuknallen musste. Wer auch immer auf der Treppe war, er war offenbar stehen geblieben, denn sonst hätte sie jetzt schon den Kopf sehen müssen. Sekunden verstrichen, es kam ihr vor wie Minuten.
Und plötzlich war er da, entsetzlich, sprang die letzten drei Stufen auf sie zu, ein Messer in der Hand. Sie schrie auf und knallte die Tür zu, riss dabei noch reflexartig den Gürtel vom Bademantel ihres Vaters zurück, der fast
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