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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: corley
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inzwischen ein unerlässlicher Bestandteil ihres Umgangs mit den Belastungen, die sie jetzt tagtäglich erlebte.
    Sie würde sich doch von ein paar wahllosen Anrufen und E-52

    Mails keine Angst einjagen lassen. Eine Woche lang fand sie sich damit ab und beschloss dann, ein paar Tage auszuspan-nen. Ein Wochenende bei ihrem Bruder war das kleinere von zwei Übeln geworden.
    Es war seltsam, auf die massive Eichentür ihres Elternhauses zuzugehen und zu wissen, dass ihr Vater sie nicht aufrei-
    ßen würde, um seiner Tochter einen Kuss auf die Wange zu drücken. Sie war sonntags nie zu spät zum Mittagessen gekommen, aber irgendwie hatte er es immer geschafft, ihr das Gefühl zu geben.
    Eine alte Eisenkette hing an einem noch älteren Hebel, und sie zog daran, lauschte auf das Klingeln tief aus dem Innern des Hauses. Sekunden später öffnete ihre Schwägerin die Tür und begrüßte sie mit einem herzlichen Lächeln.
    »Di! Tschuldigung, Louise – irgendwann gewöhn ich mich schon dran. Wir hatten Angst, du wärst in letzter Minute zu einem Einsatz gerufen worden. Komm rein, Simon ist im Wintergarten.«
    Sie hatten die Einrichtung in der Diele nicht verändert, aber sie hatten endlich das düstere Bild mit dem von Hunden gehetzten Hirsch abgehängt. An dessen Stelle hing jetzt ein Spiegel mit vergoldetem Rahmen. Sie wandte die Augen von ihrem Spiegelbild ab und blickte ins Wohnzimmer, wo sie nur die alte Standuhr sehen konnte. Zu ihrem Erstaunen ging die Uhr falsch, ein weiteres Zeichen dafür, dass sich das Leben verändert hatte.
    »Hallo Schwesterherz.« Simon stand in der Tür zu dem großen Glasanbau, den ihre Mutter immer nur als »Orange-rie« bezeichnet hatte. Sie waren gleich groß, aber er war über zwanzig Kilo schwerer. Er hatte die blassgrauen Augen ihrer Mutter geerbt, ganz anders als ihre. Ja, sie sahen sich beide so wenig ähnlich, dass Nightingale einmal von ihrer Mutter den 53

    Beweis verlangt hatte, dass sie Zwillinge waren. Ihre Mutter hatte ihr wortlos eine Geburtsurkunde vor die Nase gehalten, auf der stand, dass sie einen Jungen und ein Mädchen zur Welt gebracht hatte, Simon David und Diana. Zwei Tage später war Nightingale zum ersten Mal von zu Hause ausgerissen. Zwei Monate später steckten ihre Eltern sie ins Internat, von dem sie irgendwann verwiesen wurde.
    »Nimm’s mir nicht übel«, Simons Stimme holte sie in die Gegenwart zurück, »aber du siehst müde aus.«
    »Danke.«
    »Vergiss, was ich gesagt habe. Komm, trink was – wir haben beide ausnahmsweise mal keinen Dienst.«
    Simon hatte sich verändert, seit er mit Naomi verheiratet war. Der rüpelhafte Junge, mit dem sie aufgewachsen war, der Liebling ihrer Mutter, der zu einem gemeinen Scheusal verwöhnt worden war, noch ehe er in die Schule kam, war nur noch eine blasse Erinnerung. Sie waren sich völlig fremd geworden, als sie mit dem Internat fertig war – genauer gesagt, als das Internat mit ihr fertig war. Als er nach dem Studium zurückkam, zum Entsetzen ihrer Mutter bereits mit Naomi verlobt, war aus ihm ein freundlicher, Rugby spielender, extrovertierter junger Mann geworden, mit dem sie sich überraschend gut verstand. Naomi arbeitete unablässig daran, dass die Zuneigung zwischen den Ge-schwistern nicht erlosch, was Simon und Nightingale immer wieder amüsierte.
    Um sechs Uhr saßen sie noch immer am Esstisch. Naomi ging Tee kochen und ließ die Geschwister allein. Simon hatte mehr getrunken als sonst und sprach mit schonungsloser Offenheit.
    »Du bist zu dünn, weißt du, Di…«
    »Louise.«

    54

    »Tschuldigung, kommt vom Alkohol. Du könntest gut und gern zehn Pfund mehr vertragen.«
    »Du redest schon genau wie Vater.« Simon verzog das Gesicht. »Hör mal, ich hab ein hartes Jahr hinter mir, und ich glaube nicht, dass es leichter wird. Der Superintendent will mich versetzen.«
    »Ist das so schlimm? Bist du in Harlden denn wirklich zufrieden? Ich hätte gedacht, du wärst froh über eine Veränderung, solange du jung und ungebunden bist.«
    Sie antwortete nicht. Wie sollte sie ihm erklären, dass genau das Gegenteil der Fall war, dass sie sehr wohl gebunden war, an einen Mann, der kaum Notiz von ihr nahm, und dass sie sich schon jetzt alt fühlte?
    »Was hast du eben gedacht? Du hast richtig traurig ausgesehen.«
    »Nun lass sie doch, Simon, merkst du denn nicht, wenn eine Frau verliebt ist?« Naomi stellte eine Tasse Tee vor Nightingale hin, bemerkte ihr weißes Gesicht und wechselte rasch das Thema. »Habt ihr

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