Crescendo
holte Unterlagen aus seiner Aktentasche und studierte sie, bis ihm die Augen zufielen. Er schlief aufrecht 58
sitzend bei brennendem Licht ein, den Inhalt einer Ermitt-lungsakte auf dem Kissen neben sich verteilt.
Als der Wecker klingelte, stöhnte er. Nur noch einen Tag und er konnte sich auf ein ungestörtes Wochenende mit den Kindern freuen. Auf dem Weg zur Arbeit fiel ihm ein, dass er Monique seit fast zwei Wochen nicht mehr besucht hatte.
Die Ärzte versicherten ihm zwar, dass sie weder ihn noch sonst jemanden jemals wieder wahrnehmen würde, trotzdem quälte ihn nach wie vor das schlechte Gewissen. Er musste versuchen, eine Fahrt zum Pflegeheim einzuschieben.
Um sechs Uhr hatte er die dringendsten Sachen auf seinem Schreibtisch erledigt und war auf dem Weg zur Tür, als das Telefon klingelte. Er fluchte leise.
»Ja?« Er hoffte, seiner Stimme war die Ungeduld anzuhö-
ren, die er empfand.
»Andrew? Ich bin’s Claire, Claire Keating.«
»Claire, was kann ich für Sie tun?«
»Ich dachte, wenn Sie heute Abend nichts vorhaben, wir wollen im College noch was trinken – nichts Besonderes, bloß ein paar Gläschen zur Stärkung, bevor die Prüfungen anfangen. Die nächsten sechs Wochen werden für uns ganz schön hektisch.«
Er hatte vergessen, dass sie im Hauptberuf Dozentin war und für die Polizei nur nebenbei arbeitete. Die Einladung verblüffte ihn. Er mochte Claire, und mit ihr allein hätte er sich vielleicht sogar getroffen, aber die Vorstellung, schlechten Wein mit einer Gruppe Akademiker zu trinken, mit denen ihn nichts verband, behagte ihm nicht. Und überhaupt, die Kinder würden ihn vermissen.
»Danke für die Einladung, aber ich kann leider nicht.« Aus Höflichkeit fügte er hinzu: »Vielleicht ein andermal.«
»Klar. War bloß so eine Idee. Schönes Wochenende.«
59
Als er die Haustür öffnete, schlugen ihm Fernsehgeräusche aus dem Wohnzimmer und Töpfeklappern aus der Küche entgegen.
»Hallo!«, rief er. »Ich bin wieder da.«
Chris brummte etwas, ohne den Kopf vom Fernseher ab-zuwenden. Bess sprang auf und lief ihm entgegen, ein schock-ierender Anblick in Limonengrün und Pink.
»Daddy, du kommst aber früh!« Sie drückte ihn, als er seinen Mantel aufhängte. Er betrachtete blinzelnd das neonfar-bene T-Shirt und die knallig gestreiften Leggings, Sachen, die er noch nie an ihr gesehen hatte.
»Gefall ich dir, Daddy? Ich war mit Lucy und ihrer Mum nach der Schule einkaufen. Das waren Sonderangebote, su-perbillig.«
Das wunderte Fenwick keineswegs, aber so billig, wie sie aussahen, konnten sie unmöglich gewesen sein.
»Du warst einkaufen?« Er umging eine direkte Antwort auf ihre Frage, aus purer Ratlosigkeit. Er hätte nie gedacht, dass er mal als Modeberater herhalten müsste, denn bislang hatte er sich auf Bess’ guten Geschmack verlassen können. Auf solche Geschmacksverirrungen würde seine Tochter doch nicht he-reinfallen, hatte er zumindest geglaubt. Wie sehr sich ein Mann doch täuschen konnte.
»Ja, aber gefallen dir die Sachen?« Sie stampfte zum Nachdruck leicht mit dem Fuß auf, was untypisch für sie war.
Fenwick beschlich der Verdacht, dass Lucy Wells vielleicht nicht nur in Modedingen einen schlechten Einfluss auf Bess hatte.
»Interessantes Muster. Oh, Tschuldigung, darf das Glitzer-zeug abgehen?« Er starrte mit angewiderter Faszination auf die funkelnden Plättchen, die sich von den Cartoon-Äpfeln auf dem T-Shirt auf seine Finger übertragen hatten.
60
»Och, ist nicht schlimm, das geht dauernd ab. Mrs Wells sagt, nach der ersten Wäsche hält es.« Sie blickte zu ihm hoch, ihre dunkelbraunen Augen riesig unter dichten Wim-pern. »Die Sachen gefallen dir nicht, stimmt’s?« Ihre Mundwinkel gingen nach unten. In ihrer Stimme lag eine merkwürdige Mischung aus Trotz und Flehen. Fenwick erkannte die Warnzeichen, sprach aber unbeirrt weiter, aufrichtig wie immer.
»Wenn ich ehrlich bin, ist das Pink ein bisschen zu baby-haft für meinen Geschmack, aber wichtig ist, dass sie dir gefallen. Kannst du sehr gut auf Partys anziehen.«
Sie blickte ihn erneut mit Moniques Augen und Moniques Ausdruck im Gesicht an. Ihr Kinn schob sich vor.
»Das sind doch keine Partysachen. Ich will sie jeden Tag anziehen, außer zur Schule.«
»Schön. Wie du willst. Aber nicht, dass sie so schnell kaputt gehen. Ich geh mich umziehen.«
Er hatte das letzte Wort gehabt, dachte er wenigstens. Als er die Treppe hinaufging, rief sie hinter ihm her: »Wenn ich genug Geld
Weitere Kostenlose Bücher