Crime
anderen taten. Allesamt latschten sie erst zum Kühlschrank, jeder einzelne derKerle, die ihre Mutter zu jeder Tag- und Nachtzeit angeschleppt hatte. Er kann sie sehen. Ihrer Spur vom Sofa zum Kühlschrank folgen wie ein Biologe der Spur eines Bären zu seinen Lachsgründen. Er will ihr zeigen, dass es nicht normal ist. Dass es nicht einfach hinzunehmen ist, wenn sich eine endlose Reihe von Kerlen mit Bierfahne in die Wohnung, ins Leben eines Kindes hineindrängt. Denn wenn sie das für eine Selbstverständlichkeit hält, wird sie, wenn sie groß ist, auch mit Kerlen zusammen sein, die den ganzen Tag, und zwar jeden Tag, eine Bierfahne haben. Und Kerle, die den ganzen Tag, jeden Tag eine Bierfahne haben, sind ganz schlecht für Frauen. Was auch sonst?
Was sonst?
Also macht sich Ray Lennox einen Kaffee und wartet dann.
Und wartet.
Minuten strecken sich zu Viertelstunden, die seine Nerven wie Klaviersaiten bis zur Grenze der Belastbarkeit spannen, um dann wieder zurückzuschnappen, wobei sich stoßweise eine stechende Müdigkeit in seine Nasennebenhöhlen und Augen entlädt. Mit jeder dieser Schlagphasen durchquert er ein Stück Ozean, er fühlt sich wie ein angeketteter Rudersklave im Inneren eines Seelenverkäufers, der sich durch stürmische Weiten kämpft. Die Strafe für den Alkohol und die Drogen der vergangenen Nacht, für die heitere Entkoppelung von Raum und Zeit. Strategische Überlegungen melden sich langsam und verhalten.
Er sollte Trudi anrufen. Er spürt den Zimmerschlüssel aus Plastik in seiner Hosentasche. Sie hat einen Zweitschlüssel. Eine eigene Karte mit der Adresse. Sie wird jetzt fest schlafen. Es ist noch früh: 8.33 auf der Digitaluhr. Das wird sie ihm kaum danken. Was kann er tun? Es ist unentschuldbar. Genau das wird sie ihm sagen. Unentschuldbar ist ein derartiges Verhalten . Was kannst du zur Entschuldigung anführen? Er hat Gründe, aber ab welchem Punkt zählen sie nicht mehr als Entschuldigung?
Dabei sollte er alt genug sein, es besser zu wissen. An seinem nächsten Geburtstag wurde er fünfunddreißig. Ganz offiziell die Lebensmitte– wenn man sich an das hergebrachte Siebzig-Jahre-Diktum hielt. Er lehnt sich zurück und guckt die Zeichentrickfilme im Fernsehen. Der Roadrunner düpiert den Coyoten zum millionsten Mal.
Tianna schaut sich hin und wieder zu ihm um. Einmal steht sie auf und holt sich noch eine Cola. Häppchenweise taucht in seinem Kopf die Geschichte auf, die Umstände, die ihn in dieses Zimmer geführt haben, allerdings als Off-Kommentar von jemand anderem. Anhaltende Zurechnungsfähigkeit nötigt zur Aktivität, also inspiziert Lennox die Küche. Es ist nichts zu essen im Haus.
Jede Menge beschissenes Bier, aber nichts zu frühstücken für das Kind.
Er setzt sich wieder hin und sieht Tianna beim Durchschalten der Programme zu. Sie wird langsam unruhig, das merkt Lennox. Es liegt nicht nur an der Chemie in der Cola.
Sich reckend und streckend, um seine gepeinigten Muskeln zu testen, sammelt er die Perfect Bride vom Boden auf. Liest alles über Hochzeits-Etikette. Überlegt, wen er zum Trauzeugen machen soll. Seinen alten Freund Les Brodie; als Kinder hatten sie einen Pakt geschlossen. Als sie auf der alten Tarzanschaukel unten im Colinton Dell spielten. Sich schworen, jeder Trauzeuge des anderen zu werden, wenn sie später mal heirateten. Aber dann passierte die Sache im Tunnel, und sie gingen nicht mehr runter zum Dell. Außerdem hatte er Les jahrelang nicht mehr gesehen, das erste Mal wieder vor ein paar Wochen, bei der Beerdigung seines Vaters. Wo er ein dermaßenes Spektakel geboten hatte. Aber das war richtig von mir, denn die Drecksäcke in diesem Leben: die rissen dir dein gottverdammtes Herz raus. Diemussten das hören . Aber hier war er nun. Hochzeit. Trauzeuge. Da würde er wohl einen der Jungs von der Truppe bitten müssen, wenn auch nur, weil er sonst niemanden kannte. Kein Les, kein Stuart. Es würde vermutlich Ally Notman werden, weil der am wenigsten unangenehm auffallen würde. Das hieß, falls Heiraten überhaupt noch auf der Tagesordnung stand.
Er spürt Trudis Klotz von Notizbuch in seiner Gesäßtasche. Es hat seine Arschbacke so fest im Griff wie sonst ihre Hand. Er zieht es raus und schaut rein: lauter Einträge von ein oder zwei Wörtern. Listen. Websites. Ihre Handschrift: schmal, geschwungen und gefühlvoll. Die Lebhaftigkeit des Ganzen lässt ihn schmachten. Dann noch schlimmer, als er eine Seite umblättert und dort mehrmals Trudi
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