Cromwell, Bernard
gesehen,
seit er Leir von seiner Mutter fortgeholt hatte — seit dem Tag, an dem er durch
seinen Eid auf die Schädelstange ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte.
»Lallic will niemanden sehen«, erklärte Leir. »Sie hat vor
allem schreckliche Angst. Zitternd hockt sie in der Hütte und weint, wenn
Mutter sie allein lässt.«
Saban befürchtete, dass er durch seinen Meineid einen
schrecklichen Fluch auf seine Tochter herabbeschworen hatte; er kam zu dem
Schluss, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als zu Haragg zu gehen, den Hohepriester
zur Verschwiegenheit zu verpflichten, die Wahrheit zu gestehen und dann zu
tun, was immer Haragg ihm als Buße auferlegte.
Aber es sollte nicht sein. Denn an dem Abend, als die Prüfungen
beendet waren, und noch bevor Saban ihn aufsuchen konnte, stieß Haragg
plötzlich einen lauten Schrei aus und starb. Was Camaban an den Rand des
Wahnsinns trieb ...
19. KAPITEL
D er große Zauberer schrie und
heulte wie an jenem lange zurückliegenden Tag, als seine Mutter gestorben war.
Er schluchzte und wehklagte, von tiefster Verzweiflung und unstillbarem
Schmerz darüber erfüllt, dass er den väterlichen Haragg verloren hatte. »Er war
mein Vater und meine Mutter«, brüllte er, »die einzige Familie, die ich
hatte!« Er jagte die Sklavenmädchen aus seiner Hütte und geißelte sich mit
Feuersteinmessern, sodass sein nackter Körper mit zahllosen blutenden
Schnittwunden übersät war, als er bei Tagesanbruch herauskam. Schluchzend warf
er sich auf Haraggs Leichnam, schrie, dass er gar nicht wirklich tot sei,
sondern nur schliefe; trotzdem blieb der Hohepriester störrisch tot, als
Camaban versuchte, ihm seinen Atem einzuflößen und so Haraggs Geist wieder ins
Leben zurückzurufen. Dann ging Camaban wutschnaubend auf Saban los. »Wenn du
den Tempel fertig gebaut hättest, Bruder, wäre er nicht gestorben!« Camaban
zitterte am ganzen Körper, versprühte Blutströpfchen auf Haraggs Leiche, dann
riss er ganze Büschel Gras aus und schleuderte sie nach Saban. »Geh!«, brüllte
er. »Verschwinde! Du hast mich niemals wirklich geliebt! Du hast mich nie
geliebt, also mach, dass du fortkommst!«
Gundur zog Saban eilig aus Camabans Blickfeld hinter eine
Hütte. »Er wird dich töten, wenn du hier bleibst.« Der Krieger runzelte besorgt
die Stirn, als er Camabans wahnsinniges Getobe hörte. »Die Götter sind in ihn
gefahren«, murmelte Gundur.
»Das war Haraggs Tragödie«, meinte Saban trocken.
»Seine Tragödie?«
Saban zuckte die Achseln. »Haragg war für sein Leben gerne
Händler. Er liebte seinen Beruf. Er war neugierig und wissbegierig, verstehst
du, und er wanderte durchs Land, um nach Antworten zu suchen; aber dann begegnete
er Camaban und glaubte ab sofort, die endgültige Wahrheit gefunden zu haben.
Aber er hat das Händlerleben sehr vermisst. Er hätte nicht als Hohepriester
hier bleiben dürfen, denn danach war er nie mehr der Alte.«
Camaban verbot, Haraggs Leichnam in das alte Totenhaus zu
bringen, sondern er sollte in dem Totenhaus des Neuen Tempels liegen; so wurde
der Leichnam auf einer Bahre zwischen den Mutterstein und die höchsten Pfeiler
gebettet, die noch immer auf ihre Decksteine warteten. Der gesamte Stamm
schloss sich dem Leichenzug an. Camaban weinte den ganzen Weg über. Er war
nach wie vor nackt, sein Körper von einem Netz von blutverkrusteten
Schnittwunden überzogen; zwischendurch warf er sich immer wieder auf den Boden
und musste von Aurenna, die bei der Nachricht von Haraggs Tod aus Cathallo
herbeigeeilt war, sanft zum Weitergehen überredet werden. Aurenna trug ein Gewand
aus grauem Wolfsfell, in das sie Asche gerieben hatte. Ihr Haar war wirr und
zerzaust. Lallic, jetzt fast erwachsen, befand sich an ihrer Seite. Sie war ein
bleiches, dünnes Mädchen mit blassen Augen und einem verängstigten
Gesichtsausdruck. Sie erschrak auch, als Saban auf sie zukam. »Ich werde dir
die Steine zeigen«, sagte er freundlich zu seiner Tochter, »und wie wir sie
formen.«
»Das weiß sie bereits«, blaffte Aurenna. »Lahanna zeigt
ihr die Steine in ihren Träumen.«
»Tatsächlich?«, fragte Saban das Mädchen.
»Jede Nacht«, antwortete Lallic schüchtern.
»Lallic!« Aurenna rief sie zu sich, dann funkelte sie Saban
böse an. »Du hast der Göttin bereits ein Kind gestohlen. Du wirst ihr nicht
auch noch das andere nehmen!«
Die Sklaven blieben an diesem Tag in ihren Hütten, während
die Frauen des Stammes außen um den Tempelgraben und den Wall
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