Cromwell, Bernard
dem Tempel kreiste und dann in
Richtung der aufgehenden Sonne davonflog. Es konnte kein besseres Omen geben.
Der Tempel war fertig, und die Götter verweilten ganz in
der Nähe. Der Traum hatte sich in Stein verwirklicht.
Am Morgen kam Aurenna nach Ratharryn und brachte Lallic
und ein Dutzend Sklaven mit. Sie schlüpfte in Camabans Hütte und blieb dort. Es
war ein ungewöhnlich warmer Tag, sodass Männer und Frauen ohne Umhänge gingen
und sich über den um diese Jahreszeit ungewohnten Südwind wunderten, der solch
mildes Wetter gebracht hatte. Slaol ist bereits dabei, den Winter zu vertreiben,
sagten sie, und die Wärme bestärkte die Leute in dem Glauben, dass der Tempel
tatsächlich Macht besaß.
Es waren jetzt viele Fremde in Ratharryn. Man hatte sie
nicht eingeladen, sie kamen aus reiner Neugier. Seit Tagen trafen immer neue
Besucher ein. Die meisten waren von benachbarten Stämmen, aus Drewenna und von
den Stämmen entlang der Südküste; aber einige kamen auch aus dem fernen Norden,
und andere hatten sogar das Wagnis einer Seereise auf sich genommen, um das
Wunder der Steine zu sehen. Viele der Besucher gehörten zu den Stämmen, die
schrecklich unter Ratharryns Sklavenraubzügen gelitten hatten; aber jetzt
hegten sie friedliche Absichten und hatten ihre eigene Verpflegung
mitgebracht. Daher erhielten sie die Erlaubnis, sich Schutzhütten zwischen den
mit Beeren übersäten Büschen der nahe gelegenen Wälder aufzustellen. Am Tag
nach der Flucht der Sklaven traf Lewydd mit einem Dutzend Speerkämpfern aus
Sarmennyn ein; Saban umarmte seinen alten Freund und brachte ihn in Mereth'
Hütte unter.
Lewydd war jetzt Clanführer von Sarmennyn und hatte einen
grauen Bart sowie zwei neue Narben auf seiner grau tätowierten Brust. »Als
Kereval starb«, berichtete er Saban, »dachten unsere Nachbarn, wir würden
mühelos zu besiegen sein. Und so habe ich jahrelang Kriege führen müssen.«
»Und sie gewonnen?«
»Genug davon«, sage Lewydd lakonisch. Dann erkundigte er
sich nach Aurenna und Haragg, nach Leir und Lallic; er schüttelte den Kopf, als
Saban ihm all die vielen Neuigkeiten schilderte. »Du hättest nach Sarmennyn
zurückkommen sollen«, sagte er. »Das wollte ich auch immer.«
»Aber du bist trotzdem geblieben und hast den Tempel
gebaut?«
»Es war meine Pflicht«, erklärte Saban. »Aus diesem Grund
haben die Götter mich in die Welt gesetzt, und ich bin froh, dass ich es getan
habe. Irgendwann wird sich niemand mehr an Lengars Schlachten erinnern, und
selbst Cathallos große Niederlage wird wahrscheinlich eines Tages in
Vergessenheit geraten - aber mein Tempel wird die Zeiten überdauern.«
Lewydd lächelte. »Du hast deine Sache wirklich gut
gemacht. Das Bauwerk ist einmalig. Ich habe noch in keinem Land, in dem ich je
gewesen bin, irgendetwas dergleichen gesehen.« Er streckte die Hände nach
Sabans Feuer aus. »Also, was wird morgen geschehen?«
»Das musst du Camaban fragen. Falls er mit dir sprechen
will.«
»Er spricht nicht?«, fragte Lewydd verwundert.
Saban zuckte die Achseln. »Er spricht mit niemandem außer
Aurenna.«
»Die Leute sagen, dass Erek zur Erde kommen wird«, meinte
Lewydd.
»Natürlich gibt es alle möglichen Gerüchte«, erwiderte
Saban. »Sie behaupten, wir werden Götter, die Toten werden wieder auferstehen
und der Winter sei für alle Zeit gebannt - aber ich weiß nicht, was geschehen
wird.«
»Wir finden es ja bald genug heraus«, tröstete Lewydd.
Die Frauen bereiteten den ganzen Tag über Speisen zu.
Camaban hatte keine besonderen Pläne für die Tempelweihe enthüllt; aber der
Tag der Wintersonnenwende war schon immer ein Festtag gewesen. Daher kochten
und rührten und brieten die Frauen, sodass der gesamte hohe Ringwall von
köstlichen Düften erfüllt war. Camaban blieb in seiner Hütte, und Saban war
froh darüber; denn er befürchtete, dass sein Bruder Leir vermissen und nach
seinem Verbleib forschen würde; doch weder Camaban noch Aurenna erkundigten
sich nach dem Grund von Leirs Abwesenheit.
Es gab kaum jemanden, der in dieser Nacht ruhig schlief,
denn alle erfüllte fieberhafte Erwartung. Die Wälder waren hell erleuchtet von
den Feuern der Besucher, und am westlichen Horizont stand ein Neumond - der
bei Tagesanbruch hinter Nebelschwaden verblasste, als die Leute von Ratharryn
ihre feinsten Kleider anlegten. Sie kämmten sich die Haare und schmückten sich
mit Halsketten aus Knochen, Gagat, Bernstein und Muscheln. Das Wetter war noch
immer
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