Crossfire 1: Kontakt
immer versuchte sie ihn aus der
Fassung zu bringen.
»Wir bezeichnen jene Keimzellen als ›weiblich‹, die
DNA-tragende Organellen wie beispielsweise Mitochondrien
besitzen«, erläuterte George und kam allmählich wieder
in Schwung. »Die ›männlichen‹ Keimzellen haben so
etwas nicht. Aber vielleicht enthalten die Keimzellen der Ranken
überhaupt keine Organellen. Sie beruhen ja nicht einmal auf
DNA.«
»Ich verstehe diese Worte nicht«, sagte die Ranke.
Bevor George es erklären konnte, äußerte Shipley:
»Da kommt mir ein Gedanke. Wenn sich die Ranken durch
Bestäubung vermehren, dann kann jedes Individuum Träger der
Gene eines beliebigen anderen Individuums sein. Das ist vielleicht
der Grund, weshalb sie niemals töten. Es wäre, als
würde man seine eigenen Nachkommen umbringen.«
Naomi wirkte auf einmal wieder sehr erregt, und Jake schaute
Shipley anklagend an. Offenbar war er der Ansicht, dass Shipley den
Pazifismus der Ranken nicht hätte erwähnen sollen, so wenig
wie irgendetwas anderes, was er über sie erfahren hatte, bevor
sie an Bord dieses Schiffes gekommen waren. George war
verärgert, weil Shipley einfach das Thema gewechselt hatte.
»Ja«, sagte die Ranke. »Natürlich. Wir
sterben, aber wir verstehen nicht, warum man tötet. Unser Feind
tötet.«
Jake funkelte Shipley an und fragte: »Welcher Feind? Wovon
redest du?«
Shipley erhob sich. Er war hier unerwünscht. Und er konnte
sich selbst nicht länger davon ablenken, dass er bald eine
Entscheidung treffen musste.
Vorsichtig folgte er dem Weg zum Krankenlager. Es war leer, bis
auf Franz. Gail war zur Schlafinsel gegangen, endlich erschöpft
genug, um sich hinzulegen. Franz hatte festgestellt, dass die
Läufer die Krankenhausinsel nicht betraten (hatten es ihnen die
Ranken »verboten«?), und seitdem verbrachte er die ganze
Zeit dort. Er verweigerte immer noch die Nahrungsaufnahme, so wie
Naomi. Der Soldat lag fest schlafend da, sein muskulöser
Körper wirkte dabei so entspannt wie der eines Kindes.
Shipley setzte sich, senkte den Kopf und schloss die Augen. Er
versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Aber er sah stets Beta vor
sich:
»Das ist unsere Abschiedsknospe, William Shipley. Wirst du
sie anderen Ranken übergeben, damit Beta wieder wachsen
kann?«
»Wieder wachsen, Beta?«
»Ja«, sagte Beta. »Die Abschiedsknospen aller
Ranken sind sicher aufdem geheimen Planeten. Die Abschiedsknospen
werden wachsen. Sie sind zweimal gewachsen. Sie können dreimal
wachsen.«
Jake, wie er ungläubig sagte: »Sie haben einem
Außerirdischen am Sterbebett einen Eid geleistet?«
»Neue Quäker leisten keine Eide«, sagte Shipley.
»Unser Wort sollte stets genügen.«
Shipleys Wort hatte nicht genügt. Die Pelzlinge hatten Betas
Abschiedsknospe vernichtet, sie so gründlich aufgelöst wie
die freundliche Ranke selbst. Also hatte Shipleys Wort damals nicht
der Wahrheit entsprochen, und die Unwahrheit vergrößerte
er noch, indem er auch den Ranken an Bord dieses Schiffes nicht die
Wahrheit sagte. Die Wahrheit, die ihren Planeten retten könnte.
Und das, obwohl diese Ranken die Menschen gerettet hatten und ihnen
vertrauten.
Unter Jakes Führung war Shipley zu einem Mann in einem
trojanischen Pferd geworden. Täusche den Feind, indem du
vorgibst, etwas anderes zu sein. Gelange hinter seine
Verteidigungslinien. Vernichte ihn von innerhalb seiner
Mauern.
Nur dass die Ranken nicht der Feind waren. Durch sein Schweigen
half Shipley, Freunde zu vernichten. Aber wenn er nicht schwieg,
würden die Pelzlinge Mira City auslöschen.
»Die Wahrheit ist der Weg, und der Weg ist die
Wahrheit«, so hatten frühe Quäker es
ausgedrückt – und nicht nur Quäker. Wie lautete noch
mal dieses Zitat von Plato? »Die Wahrheit steht am Anfang
jeder guten Sache.«
Wenn Shipley den Ranken nicht die Wahrheit sagte, konnte nichts
Gutes daraus erwachsen.
Wenn er ihnen die Wahrheit sagte, würden mindestens
fünftausend Menschen den Tod finden.
Doch wenn er die Wahrheit verschwieg, gab es keine Hoffnung, eine
bessere Lösung zu finden, eine, die alle retten konnte. Und
zudem würden Shipleys Leben und sein Glaube zu einer Lüge
werden. »Lass dein Leben sprechen«, hatte er einmal zu Lucy
gesagt, vor sehr langer Zeit an Bord der Ariel. Ein Leben
musste die Wahrheit sprechen.
Er konnte nicht die Wahrheit sagen.
Seine Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis, bis Shipley der
Kopf wehtat und seine Augen brannten. Er griff nach dem Becher und
schluckte den Brei,
Weitere Kostenlose Bücher