Crossfire 1: Kontakt
mit dem die Ranken sie ernährten. Er legte
sich nieder, in dem Schiff, mit dem die Ranken sie gerettet hatten,
atmete die süße Luft, mit der die Ranken sie versorgten,
und versuchte zu schlafen. Aber immer noch beschäftigte die
Frage seinen müden Verstand, erdrückte ihn, und er fand
keine Antwort.
»Sie sind Sklavenhalter«, behauptete Naomi wütend.
»Wie kannst du das in Frage stellen?«
»Ich denke, das kann man auch anders sehen«, entgegnete
Gail ruhig.
Shipley blieb reglos liegen. Er hatte das Gefühl, dass er
sehr lange geschlafen hatte. War da etwas in der Nahrung gewesen,
oder hatte es nur an der Erschöpfung eines alten Körpers
gelegen, der sich von einer Krankheit erholte? Gail und Nan
saßen am Rand der Krankendecke und unterhielten sich leise.
Franz Müller war fort; Shipley war allein mit den beiden Frauen.
Naomi sah furchtbar aus, abgemagert und mit eingefallenen Wangen. Sie
hatte keine Nahrung zu sich genommen, seit… wie viele Tage waren
sie schon an Bord dieses Schiffes? Shipley wusste es nicht. Hinter
Naomi ragten zwei große, reglose Ranken auf, die nichts von der
Unterhaltung mitkriegten. Die möglicherweise nichts
mitkriegten.
»Was kann man da anders sehen?«, fragte Naomi.
»Diese verfluchten Pflanzen haben die kleinen Läufer
versklavt. Sie halten sie in Blättern gefangen, bis sie ihre
Dienste als laufende Pimmel brauchen! Wie willst du das sonst nennen,
wenn nicht Sklaverei?«
Shipley konnte hören, wie sehr sich Gail bemühte, ihre
Stimme ruhig klingen zu lassen, als sie antwortete: »Die
Läufer scheinen nicht unglücklich zu sein.«
»Ach verdammt, Gail! Seit Anbeginn der Zeiten gab es
›glückliche‹ Sklaven, die es einfach nicht besser
wussten, in jeder Kultur, die jemals Sklaverei betrieben hat. Du
weißt das. Es ist trotzdem nicht richtig.«
»Es sind keine Menschen. Du kannst an außerirdische
Organismen keine menschlichen Maßstäbe anlegen.«
»Weißt du«, entgegnete Naomi mit spröder
Stimme, »bis zu diesem Augenblick habe ich nicht bemerkt, dass
du bigott bist.«
Da verlor Gail die Geduld. »Einen Scheiß bin ich! Ich
bin einfach nur vernünftig. Die Läufer sind nicht winzige
Menschen, egal, wie sie aussehen. Vielleicht sind sie nicht einmal
vernunftbegabt. Niemand sonst schwelgt derart in selbstgerechtem
Anthropomorphismus wie du!«
»Franz stimmt mir zu.«
»Oh, großartig. Ein Erneuerter, der von Stunde zu
Stunde xenophober wird. Hast du gesehen, wie er nach dieser Ranke
geschlagen hat, als zufällig ein Wedel über sein Bein
streifte?«
Naomi gab keine Antwort. Geschlagen?, dachte Shipley. Womit?
Wenn Franz Müller Anzeichen der gleichen Paranoia zeigte, die
Rudi Scherer und Erik Halberg aus dem Gleichgewicht gebracht hatte,
dann musste Shipley es wissen. Er versuchte, sich zu erheben, aber
eine gewaltige Trägheit schien auf seinem Körper zu
lasten.
»Nan?«, sagte Gail.
»Ich will nicht mehr darüber reden.« Naomi erhob
sich und ging davon.
»Nun, ich schon!«, rief Gail. »Ich habe deine
melodramatischen Abgänge in angeblich moralischer
Überlegenheit satt!« Sie sprang auf und folgte Naomi den
Weg entlang.
Shipley konnte sich immer noch nicht bewegen. Um ihn herum war es
jetzt still in der gewaltigen Halle. Die dichte Biomasse schluckte
alle Geräusche. Stimmen von den beiden anderen Inseln erreichten
das Krankenlager nicht, und die Ranken verursachten ebenfalls keine
Geräusche. Shipley vernahm auch nicht mehr das Zwitschern der
Läufer. Waren sie alle wieder zurück in das geklettert, was
Naomis Ansicht nach ein »Pflanzengefängnis« war?
Dann hörte Shipley etwas.
Das Geräusch erklang in jenem Moment, als die Schwäche
endlich Shipleys Glieder verlassen hatte und er sich wieder bewegen
konnte. Ein schwacher Laut, dünn, aber dennoch deutlich zu
vernehmen. Vielleicht trug er nur so weit, weil er so viel höher
war als menschliche Sprechstimmen. Ein lieblicher Laut, der die
Erinnerungen an einen anderen Ort, eine andere Zeit und ganz andere
Umstände heraufbeschwor.
Karim Mahjoub pfiff das Rondo aus Beethovens Violinenkonzert.
Ranke Beta, die Karim zuhörte, wie er Strauß und
Mozart pfiff. »Es bringt Licht in meine Seele.«
Licht.
Shipley setzte sich auf der rauen Decke auf. Er hatte seine
Entscheidung gefällt.
Diese Entscheidung war nicht leicht umzusetzen. Shipley musste mit
der wortführenden Ranke allein sein – dem
Außerirdischen, der den Übersetzer hatte. Niemand konnte
sagen, ob es die übrigen Ranken überhaupt
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