Cruzifixus
verschollene Handschrift, die X-Akten Jesu? Oder ging es um handfeste, materielle „Schätze“: um einen Koffer voll Geld, Gold und Wertpapieren? Um den Schlüssel eines Schließfachs oder eines Tresors, in dem die Beute eines Kirchenraubs, Reliquiare, Paramente und Pergamente versteckt lag? Das Problem an der Geschichte war, dass er auf eine Vielzahl von mehr oder weniger verwehten „Spuren im Schnee“ stieß, die sich in einem ihm rätselhaften und unverständlichen Muster kreuzten und überschnitten. Wo er auch den Spaten ansetzte, stieß er auf zerbrochene, bruchstückhafte Teile der Wahrheit, fragmentarische Mosaiksteinchen, die nicht recht zueinander passten. Je länger Simon darüber nachdachte, desto verwirrender, desto labyrinthischer erschien ihm das Ganze. Vor ihm tauchten immer wieder schemenhafte, unwirklich wirkende Gebilde aus dem Nebel auf, die sich beim näher kommen als Bäume, Büsche oder Strommasten entpuppten. Die Suppe wurde immer dicker, die Sicht immer schlechter. Er konnte kaum mehr als 15 Meter weit sehen. Simon merkte wie er immer müder, wie seine Lider immer schwerer wurden. Er rieb sich die Augen, versuchte klar zu sehen und fand sich in der surrealen Szenerie einer Traumwelt wieder. Um ihn herum wirbelten bunte Luftschlangen, ritt eine Schar von Walpurgis-Walküren auf ihren Hexenbesen zu den Bergen Belials. Mitten durch die Menge der Bacchus-Jünger stampfte der Minotaurus, wischte sich sein blutiges Maul und scharte mit den Hufen. Um den Minotaurus Mores zu lehren, ließ der heilige Leonhard den Ochsenfiesel knallen und rasselte mit seinen Eisenketten. Hinter dem Untier marschierte eine aus Cherubim und Seraphim formierte Gebirgsschützenkompanie unter den Klängen des bayerischen Defiliermarschs in das zum Gerichtssaal umfunktionierte Bierzelt. Der ungläubige Thomas sprang wie ein Veitstänzer zwischen den Biertischen herum und brüllte wie ein Ochs am Spieß:
„Jesus lebt! Jesus lebt!“
Mit dem Hackebeil in der Hand hetzte Petrus dem herzerweichend krähenden Hahn hinterher. Paulus griff in die Tasten des unschuldslammweißen Flügels und kreischte im Eunuchenfalsett:
„Et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam!“
Am Stammtisch verbrüderten sich die heiligen Dreikönige und ließen einen nach Weihrauch und Myrrhe duftenden Joint kreisen. Kaspar stammelte bekifft:
„Coole Sache damals in Bethlehem!“
Ein paar gefallene Engel hingen mit hängenden Pappmache-Flügeln unter dem Zeltdach. Auf dem Podium plärrte der Gefangenenchor aus Nabucco:
„Va pensiero, sull' ali dorate! Va', ti posa sui clivi, sui colli...”
Eine Bande zotteliger Sparifankal jagte eine aufgeregt kreischende Hurenhorde durch den Saal. Satan scharwenzelte um die in rosaroter Reizwäsche herumstolzierende Maria Magdalena und begrapschte ungeniert ihre fleischigen Pobäckchen. Judas warf mit den Silberlingen nur so um sich und heulte:
„Gott ist groß und ich bin sein Prophet!“
Doch wo war der Messias? Er hockte mit hängenden Schultern im Herrgottswinkel und jammerte mit weinerlicher Stimme:
„Maria, Magdalena, warum habt ihr mich verlassen?“
Die Farben der Finsternis
Exit salvatio del monte. Das Heil kommt vom Berg!
Sein Kompagnon beschnüffelte die violette Verfärbung an der Unterseite des Korkens wie ein Straßenköter das Kothäufchen eines Eindringlings. Simon argwöhnte:
„Moussiert er? Im Zweifelsfall schütte das Zeug lieber weg.“
Endlich schloss Vinzenz seine eingehende Geruchssondierung ab. Er goss zwei Gläser randvoll und verkündete wie ein von der einzigartigen Qualität seiner Ware überzeugter Sommelier:
„Cruz de la Mancha. Von den Weingütern des spanischen Königs! Exquisites Bouquet, formidable Struktur!“
Dabei sah er mit seinem wirren, ungepflegten Bocksbart und seinem von Exzess-Exerzitien gezeichnetem Narbengesicht eher wie ein der Trunksucht verfallener Hinterwäldler-Hidalgo aus. Simon erschien der Rebsaft jedoch nicht ganz koscher. Er kannte Vinzenzens sonderbaren Geschmack – und zwar nicht nur in Fragen von Wein und Weib. Misstrauisch beäugte er das Etikett: Don Quichotte, Sancho Pansa und
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