Cruzifixus
den Schatten zu stellen. Kein Wunder, dass ihr Verhältnis alles andere als unproblematisch war.
Ja, sie waren wie Tag und Nacht, wie Sonne und Mond, zwei Sphären die sich nur an den äußeren Rändern berührten: Simon Sternsteiner, der schlaksige, in sich gekehrte, von Ehrgeiz zerfressene Bergbauernbub vom Höllensteiner See, Rainfried von Reichinger, der bullige, extrovertierte, großsprecherische Grobian aus steinreichem, adeligem Hause, dem man die anmaßende Arroganz und die snobistische Eleganz bereits in die Wiege gelegt hatte. Rainfried Rasso Gernot Grimwalt Freiherr von Reichinger-Schwarzenstein war ein Enfant terrible, der seinen Blaublutbonus weidlich auskostete. Er war der jüngste Spross einer weit verzweigten Sippe von Eisenbahnmagnaten, Schlotbaronen und Latifundienbesitzern, die im 19. Jahrhundert ein riesiges Vermögen zusammengerafft hatten und die bis heute neben Immobilien und Grundbesitz zwei landwirtschaftliche Mustergüter, einen feudalen Golfclub sowie ein Gestüt zur Aufzucht alter, fast ausgestorbener Pferderassen ihr eigen nannten.
Aus einer bürgerlich, bourgeoisen Anwandlung heraus hatte sein alter Herr beschlossen, den Sohnemann nicht ins Internat zu stecken, sondern aufs Adalbert-Stifter Gymnasium Erchtenhall zu schicken. Dieser huldvolle Gnadenakt ließ den gesamten Lehrkörper vom Rektor bis zum Referendar in andächtiger Ehrerbietung erstarren. In der Folge fühlten sich die Pädagogen unaufgefordert dazu verpflichtet, die schulischen Leistungen ihres adeligen Zöglings mit Nachsicht und Wohlwollen zu bewerten, seine Zensuren mit Bestnoten zu spicken. Rainfried war sich seiner aristokratischen Ausnahmestellung durchaus bewusst und scherte sich einen feuchten Kehricht um die Empfindungen oder Empfindlichkeiten von Krethi und Plethi. Seine Mitschüler behandelten den „jungen Herrn“ dennoch mit gebührendem Respekt und die Lehrer störten sich nicht im Geringsten daran, dass sich Rainfried gewisse feudale Freiheiten herausnahm und es sich beispielsweise zur Gewohnheit gemacht hatte, während des Unterrichts genüsslich ein Haschpfeifchen zu schmauchen.
Simon hatte hingegen keinerlei Privilegien genossen, hatte stattdessen bei einem Joint und einem billigen Bordeaux vom Klassenkampf, von der Weltrevolution, von der Diktatur des Proletariats geträumt. An weltanschaulichen Fragen hatten sich hitzige Grundsatzdebatten entzündet, über den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Realität und sozialromantischer Utopie war ein heftiger Diskurs zwischen ihnen entbrannt.
Wegen des Postens des Schulsprechers, des „Primus inter Primates“ wie „Raffi“ höhnisch anzumerken pflegte, war es schließlich zum Bruch gekommen. Rainfried hatte es seinem „Adlatus“ nie verziehen, dass er ihm die prestigeträchtige Position vor der Nase weggeschnappt hatte. Von da an hatte Eiszeit zwischen ihnen geherrscht. Eine heftige, gegenseitige Aversion, die das Ende ihrer Schulzeit überdauern sollte. Auf der Abiturfeier hatte ihn Rainfried wie ein spottsüchtiger Narziss den Spiegel vorgehalten:
„Meine Bekannten wähle ich wegen ihres sanftmütigen Charakters, meine Feinde wegen ihrer Intelligenz.“
Rainfried spuckte Gift und Galle. Offenbar sah er keinen Grund seinen Unmut vor ihm zu verbergen:
„Alles Adolf oder was? Was ist so spannend an diesem Kretin? Der Buchmarkt wird von einer wahren Flut von Veröffentlichungen zum Thema Drittes Reich, Holocaust & Co. überschwemmt. Monografien, Autobiografien, Erinnerungen, die bis ins obskurste Detail Herkunft und Werdegang des Sprösslings von Herrn Schicklgruber sezieren: Hitler und der Okkultismus, Hitler und die Frauen, Hitler und die Hunde! Und jetzt kommst du mir mit Hitlers Berghof! Kennst du das Apercu von Wilde: Monogamie ist die Folge schwindender Libido, Bigamie eine Frage geistiger Potenz.“
Rainfried übernahm den Part des mokanten, provokanten Dandys:
„Erinnerst du dich an Lämmles Lieblingsspruch: Leichter findet man ein Labyrinth als einen Weg, der zum Ziel führt!“
Simon hielt dagegen – er hatte seine Hausaufgaben gemacht:
„Comenius! Aber kennst du diesen? Jedes Labyrinth ist ein Kreis, dass am Ende beginnt und am Anfang endet!“
Rainfried
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