Cryonic: Der Dämon erwacht (Cryonic 1) (German Edition)
sich, nicht weiter an die Drobitschenkos zu denken – dachte dafür aber ständig an seine Familie. Wahrscheinlich erging das allen Gefangenen so, und jeder im Knast hing den Erinnerungen an seine Verwandten in der Freiheit nach. Und wer keine Familie hatte, phantasierte sich kurzerhand eine zusammen, weil die Vorstellung, jemand außerhalb dieser Mauern warte auf einen, einfach zu schön ist. Welche Gefühle er für die Mutter seiner Kinder hegte, vermochte er immer noch nicht mit Sicherheit zu sagen. Verbundenheit? Zuneigung? Respekt? All das waren dumme, abgestandene Wörter aus einer untergegangenen Zeit, die längst ihren Sinn verloren hatten. Das Wort »lieben« kannte man allerdings auch heute, vermutlich würde es sogar noch existieren, wenn die Überlebenden einer Katastrophe einander umbrächten und auf dem Planeten nur noch zwei Menschen übrig wären …
Er hatte so wenig Zeit mit Nadja allein verbracht. Zwanzig Tage im Monat war er mit Berder und seinen anderen Lehrern durch die Wälder und Sümpfe gestromert, zusammen mit den Jungen und Mädchen aus dem Dorf. Fast wie ein überalterter Lomonossow hatte er gelernt, in der Natur zu überleben und die Geheimnisse der Erde zu durchdringen. Das Wissen aus seinem früheren Leben hatte die Wipper nicht die Spur interessiert, denn im Unterschied zu den Städtern war ihnen die Technik der Vergangenheit völlig egal. Von seiner eigenen Unzulänglichkeit überzeugt, verbiss sich der einstige Primus und Doktorand stärker als alle anderen in das, was er für ein ewiges Rätsel hielt. Nach den drei Jahren, die wie im Flug vergangen waren, hatte dann aber alles wie in einem Märchen von Puschkin geendet: Geheimnisse gab es gar nicht – dafür aber Menschen, die es verstanden, mit der Tierwelt zu kommunizieren … Da konnte sein Sohn schon laufen, während seine Tochter gerade das erste Wort herausbrachte.
Offiziell waren er und Nadja immer noch nicht verheiratet, hatten auch kein anderes Ritual durchgeführt. Als ihm einfiel, wie Nadja ihn angesehen hatte, bevor er nach Moskau aufgebrochen war, machte er sich Vorwürfe, sich nicht herzlicher von ihr verabschiedet zu haben. In den seltenen gemeinsamen Nächten hatten sie sich noch immer leidenschaftlich geliebt, aber nach dem Sex schlief er wie ein Toter ein, um dann um halb fünf aufzustehen, sich mit eiskaltem Wasser zu übergießen und wieder aufzubrechen … Trotzdem lagen für ihn immer ein Bündel mit Proviant und saubere Kleidung bereit … War er längere Zeit im Dorf, fällte er Holz, schlachtete mit den anderen Männern das Vieh, sammelte von den Feldern Kartoffeln, presste Öl, scherte die Schafe – und fiel abends wie ein Stein ins Bett. Ging er fort, tat er es, ohne je zärtlich zu ihr zu sein …
Siebenundzwanzig Stunden und neunzehn Minuten. Ismail hatte ihm beigebracht, die Zeit zu fühlen. Nach siebenundzwanzig Stunden und neunzehn Minuten kamen sie ihn holen. Als sie ihm am Ziel den Sack, den sie ihm für den Weg übergestülpt hatten, vom Kopf nahmen, konnte er sich ein Grinsen nicht verkneifen.
»Was amüsiert dich so, Zauberer?«, wollte Karim wissen, der in der tiefen Nische der Tür stand, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Trotz der Hitze, die von einem riesigen Kamin ausging, war sein Mantel zugeknöpft.
»Ich amüsiere mich nicht, sondern lächle. Wie kommt es, dass ein kluger Mann wie du – und der musst du sein, sonst hättest du es nicht zu diesem hohen Posten gebracht – auf derart billige Effekte setzt?«
»Du brabbelst unverständliches Zeug. Woher kommst du, Zauberer?«, fragte Karim, streifte die Handschuhe ab und warf sie auf den niedrigen Eichentisch. Auf dem lag bereits ein vollständiges Set für den Folterknecht: Zangen, Nägel und ähnliche Utensilien.
»Ich komme aus Petersburg.«
»Aus welcher Kommune?«
Karim gab den Soldaten ein Zeichen. Daraufhin pressten sie Artur mit dem Rücken gegen ein Metallgitter, legten ihm breite Stahlreifen um die Handgelenke und ketteten ihn an die Stäbe.
»Ich hab zu einer kleinen Bande von Gießern gehört«, log Artur. »Auf der Wyborger Seite. Inzwischen gibt es sie nicht mehr.«
»Das werde ich überprüfen. Wie heißt du?«
»Man nennt mich Schwert«, antwortete Artur, denn er hielt es für klüger, den Namen zu nennen, unter dem er im Dorf der Wipper bekannt war. Wenn sein Gegenüber Spione in Petersburg hatte, könnten die ihn leicht enttarnen. Rubens’ Leute würden seinen Namen bestimmt nicht vergessen haben.
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