Crystall (German Edition)
Vater niemals etwas zu sehen war, es offenbarte sich auch keine Spur, keine Schattenbewegung und keine noch so winzigen Laute. Nichts.
Mittlerweile standen die beiden mal wieder im Schatten einer Hauswand und der Prinz spähte in alle Richtungen, blieb diesmal sogar stehen und atmete tief durch. Die hohe Konzentration verbrauchte reichlich Energie.
Mandy wollte die Chance nutzen, um ein Gespräch anzufangen. Zudem war sie taktvoll genug, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. „Sag mal, was ist das hier für ein Dorf? Es scheint völlig leer und nutzlos.“ Alles, was sie sagte, geschah im Flüsterton.
Einen Moment blinzelte sie der Prinz irritiert an. „Hier gab es Leben, aber den Bewohnern muss es zu gefährlich geworden sein, immerhin liegt es nahe an den Kristallbergen. Die Katastrophe würde sie hier als erstes ereilen.“
„Aha“, machte Mandy, war ja irgendwie logisch. „Und da glaubst du ernstlich, hier deinen Vater zu treffen?“
„Natürlich“, erwiderte Nawarhon selbstverständlich, als hätte er mit dieser Frage beinahe gerechnet. „Wie ich sagte, er wird immer in meiner Nähe sein und wahrscheinlich beobachtet er uns sogar. Außerdem hat er denselben Weg und dasselbe Ziel, früher oder später würden wir uns ohnehin begegnen. Das weiß er und ich auch.“
Mandy runzelte die Stirn. „Und meinst du nicht, das Treffen könnte eher später sein? Ich meine, hier ist absolut niemand. Ich bezweifle...“
„Er ist hier“, unterbrach sie Nawarhon mit einem Lächeln. „Glaub mir, ich kenne den König besser, als irgendein anderer. Er wartet auf seine Gelegenheit, er kann es sich gar nicht leisten, mich zu verlieren.“
Mandy seufzte und kramte nach den richtigen Worten. Sicher, der Junge kannte seinen Vater am besten und für ihn mochte das hier logisch sein, aber nicht für sie. Mandy sprach ihre Bedenken auch laut aus. „Na schön, versuchen wir es anders. Durchdenk dir die Lage doch mal realistisch und nüchtern. Wir sind hier vollkommen alleine, es gäbe für deinen Vater – wenn er denn hier sein sollte – keinen Grund, sich zu verbergen. Er könnte kommen und dich stellen. Ich kann für ihn ja wohl keine Hürde sein. Was er da tut, ist eigentlich Zeitverschwendung und Zeit haben wir ganz bestimmt so schon zu wenig.“
Einen Moment wandelte sich Nawarhons steinerne Maske in ein amüsiertes Lächeln. „Du hast viel gelernt, Mädchen, dass muss ich neidlos anerkennen und es ehrt mich, dass du dir so viele Sorgen um mich machst.“ Er entlockte Mandy ein hoffnungsloses Stöhnen. „Aber bei uns hier gibt es Regeln. Mag sein, dass die Ehre nicht mehr so hoch angesehen ist wie früher, trotzdem spielt sie eine wesentliche Rolle. Wir beide werden das alleine austragen, das sagt die faire Regel. Aber es heißt nicht, dass einer nicht versuchen könne, Vorteile zu ziehen. Mit diesem Versteckspiel will er mich nervös machen und schwächen. Und gerade weil ich von seiner Gegenwart überzeugt bin, könnte sein Plan funktionieren. Bei dir hat es ja schon geklappt, nicht wahr?“
Mandy blinzelte verlegen und wollte etwas sagen, schaffte es aber nur zu einem kläglichen Japsen.
Nawarhon legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Mach dir nichts daraus, du bist tapfer, aber das hier regle ich.“ Und damit spannten sich seine Gesichtszüge neuerlich und die Augen untersuchten zollgenau die Umgebung.
Mandy schwieg nun entgültig. Sie war nicht sicher, ob sie den Prinzen wirklich verstand und ob der selbst überhaupt wusste, was er hier tat ... zumindest wurde ihr klar, dass dieser Feldzug Nawarhon gehörte, niemand anderem. Und sie wollte ihn – soweit der Ehrenkodex das zu ließ – nach Kräften unterstützen.
Vielleicht war der König doch nicht so dumm, wenn er auf sich warten ließ, denn das Wetter begann jetzt drastisch umzuschlagen. Seit ihrem Eintreten in das Dorf war mittlerweile endgültige Nacht hereingebrochen und die nach Schnee riechenden, grauen Wolken am Himmel schufen auch keine klare Dunkelheit, sondern eine leicht diesige. Und es würde noch schlimmer werden, das ahnte Mandy bereits. Die Kälte hatte beträchtlich zugenommen und auch der Wind erschien ihr stärker als zuvor. Mit ihm wurde natürlich der Schneewirbel ebenfalls dichter. Jeder wusste, dass die Natur in einer Schlacht der schlimmste Feind sein konnte und der König in seiner festungsgleichen Rüstung dürfte hier Vorteile ziehen. Vielleicht Entscheidente.
Wahrscheinlich hockten sie noch gute fünf Minuten
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