Cujo
für uns beide verabschieden. Und … Vic?«
»Was ist denn?« Seine Stimme klang jetzt ungeduldig. Er hatte keine Zeit mehr.
»Ich liebe dich«, sagte sie, und bevor er antworten konnte, fügte sie hinzu: »Hier ist Tad.« Sie reichte Tad den Hörer so schnell, daß sie ihm damit fast auf den Kopf schlug. Sie rannte durch das Haus zur vorderen Veranda, stolperte über ein Kissen und gab ihm einen Tritt, daß es durch das Zimmer segelte. Sie sah alles durch einen Tränenschleier.
Sie stand auf der Veranda und schaute auf die 117 hinaus. Sie preßte die Ellbogen gegen den Körper, um sich/wieder unter Kontrolle zu bekommen - Kontrolle, verdammt, Kontrolle - und war erstaunt darüber, daß man solche entsetzlichen Schmerzen empfinden konnte, ohne daß einem körperlich etwas fehlte.
Hinter sich hörte sie Tads leise Stimme. Er erzählte seinem Vater von ihrem Besuch bei Mario und daß Mommy ihre Lieblingspizza gegessen hatte und daß der Wagen erst kurz vor dem Haus wieder gestottert hatte. Dann sagte er Vic, wie lieb er ihn habe. Dann hörte sie an dem leisen Geräusch, daß Tad aufgelegt hatte. Kontakt unterbrochen.
Kontrolle.
Schließlich hatte sie sich wieder im Griff. Sie ging zurück in die Küche und räumte die Sachen aus dem Supermarkt ein.
An diesem Nachmittag um viertel nach drei stieg Charity Gamber aus dem Greyhound-Bus. Brett kam hinterher. Nervös krampften sich ihre-Finger um die Handtasche. Sie hatte plötzlich eine völlig irrationale Angst, daß sie Holly nicht wiedererkennen würde. Das Gesicht ihrer Schwester, das sie sonst immer wie ein Foto vor Augen hatte (Die Jüngere Schwester, Die Gut Geheiratet Hatte), war ihr auf geheimnisvolle Weise ganz entfallen, und wo ihr Bild hätte sein sollen, war ein leerer Fleck.
»Siehst du sie?« fragte Brett, als sie ausgestiegen waren. Er sah sich auf dem Busbahnhof von Stratford nur interessiert um. In seinem Gesicht lag nicht die Spur von Angst.
»Ich muß mich doch erstmal umschauen«, sagte Charity scharf. »Wahrscheinlich wartet sie drüben in dem Cafe oder …«
»Charity?«
Sie drehte sich um, und Holly stand vor ihr. Das Bild, das sie von ihr gehabt hatte, war sofort wieder da, aber es lag jetzt transparent über ihrem wirklichen Gesicht. Charitys erster Gedanke war: Holly trägt eine Brille. Wie komisch! Dann bemerkte sie entsetzt, daß Holly Falten hatte - nicht viele, aber es war ganz klar, was sie bedeuteten. Ihr dritter Gedanke war genaugenommen eigentlich gar kein Gedanke. Er war ein Bild, klar und scharf wie ein gutes Foto: Holly, die in ihrer Unterwäsche und mit fliegenden Zöpfen bei dem alten Seltzer in den Teich sprang und sich dabei die Nase zukniff, damit es noch komischer aussah. Damals hatte sie keine Brille, dachte Charity, und ihr Herz krampfte sich zusammen.
Neben Holly standen ein etwa fünfjähriger Junge, der sie und Brett schüchtern ansah, und ein Mädchen, das zweieinhalb Jahre alt sein mochte. Man sah an der Kleidung des kleinen Mädchens, daß sie noch Windeln trug. Ihr Kinderwagen stand ein wenig abseits.
»Hallo, Holly«, sagte Charity so leise, daß es kaum zu hören war.
Die Falten waren noch nicht tief. Holly trug ein dunkelblaues Kleid der mittleren Preisklasse. Ihre Ohrringe waren entweder besonders schöner Modeschmuck oder sehr kleine Smaragde.
Eine kleine Pause entstand, und während dieser kurzen Zeitspanne empfand Charity eine so wilde und uneingeschränkte Freude, daß es ihr überhaupt nicht mehr darauf ankam, wieviel diese Reise gekostet hatte. Denn sie war jetzt frei, und auch ihr Sohn war frei. Hier stand ihre Schwester mit ihren Kindern. Es waren keine Bilder, es war die Wirklichkeit.
Halb lachend und halb weinend gingen die beiden Frauen aufeinander zu, erst zögernd, dann schneller. Sie umarmten sich.. Brett rührte sich nicht vom Fleck. Das kleine Mädchen hielt sich am Kleid ihrer Mutter fest, vielleicht weil es Angst hatte. Vielleicht wollte es auch verhindern, daß seine Mutter zusammen mit der fremden Dame davonflog.
Der kleine Junge sah Brett eine Weile an und trat dann vor. Er trug Cordjeans und ein T-Shirt mit einem Bild Darth Vaders darauf.
»Du bist mein Cousin Brett«, sagte der Kleine.
»Ja.«
»Ich heiße Jim. Genau wie mein Vater.«
»Ja.«
»Du bist aus Maine«, sagte Jim. Hinter ihm unterhielten sich Charity und Holly sehr angeregt. Ständig unterbrachen sie sich gegenseitig und lachten darüber, daß sie es so eilig hatten, hier, auf diesem schmutzigen Busbahnhof
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