Cupido #1
war nur eins achtundfünfzig groß, und die Fensterbank befand sich rund fünfundzwanzig Zentimeter über ihr. Sie seufzte. Am Nachmittag musste sie arbeiten, und deshalb trug sie ausgerechnet heute einen Rock und hohe Absätze. Während sie die Handtasche auf den Boden legte, verfluchte sie sich, dass sie nicht einen Hosenanzug und vernünftige flache Schuhe angezogen hatte, dann drückte sie ihre Zigarette aus. Sie stieg auf die niedrige Mauer an der Kellertreppe, und von dort aus stellte sie sich mit einem Bein auf die Mülltonne und zog ihren stämmigen Körper an der Fensterbank hoch. Sie klammerte sich am Sims fest, um nicht die Balance und damit auch ihr junges Leben zu verlieren, und spähte hinein. Vor ihr auf dem Küchentisch stand Petes mit einem Tuch zugedeckter Käfig. Links im Spülbecken stapelte sich das Geschirr. Durch die Küchentür konnte sie in den Flur und ins Wohnzimmer sehen, wo sie unter einem Zeitungsberg den Couchtisch erkannte. Marie war ein wenig beruhigt. Ein aufgeräumtes Apartment wäre eine Garantie dafür gewesen, dass etwas nicht stimmte. Stattdessen wirkte es so, als wäre Chloe gestern Abend einfach nicht mehr nach Hause gekommen.
Wahrscheinlich ist sie mit zu Michael gegangen. Sie hat bei ihm übernachtet und vergessen mich anzurufen. Wahrscheinlich sind sie heute Morgen bei Dunkin Donuts vorbeigefahren und er hat sie mit einem Becher heißen Kaffee und einem Boston Cream Doughnut an der Uni abgesetzt, wo sie jetzt fürs Examen büffelt, um eine berühmte Anwältin zu werden, während ich hier meinen fetten Hintern in den Wind hänge und wie eine Vollidiotin in ihr Küchenchaos starre.
Jetzt ärgerte sie sich. Außerdem kam sie zu spät zu dem Bundesrecht–Test. Sie war gerade mitten im gefährlichen Abstieg von der Mülltonne, als ihr plötzlich ein Gedanke durch den Kopf schoss. Wenn Chloe gestern Abend nicht heimgekommen ist, wer hat dann Petes Käfig zugedeckt? Sie zögerte einen Moment, und dann fiel ihr noch etwas ein, etwas, das sie glaubte auf dem Teppich im Flur gesehen zu haben, genau vor der Küche. Irgendetwas zwang sie umzukehren und genauer nachzusehen. Also kletterte sie noch einmal auf die Mülltonne und presste sich die Nase an der Scheibe platt. Sie beschirmte die Augen mit den Händen und blinzelte.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie erkannte, dass die dunklen Flecken, die sie anstarrte, Fußspuren waren. Es dauerte noch ein paar Sekunden, bis sie begriff, dass sie aussahen wie aus Blut.
Und dann fiel Marie Catherine Murphy von der Mülltonne und begann zu schreien.
11.
«Wir haben einen Puls», bellte eine Stimme in der Dunkelheit.
«Atmet sie?» Eine zweite Stimme.
«Kaum. Ich gebe ihr Sauerstoff. Sie hat einen Schock.»
«Mein Gott. Alles voller Blut. Wo kommt das bloß alles her?» Noch eine Stimme.
«Frag lieber, wo es nicht herkommt! Sie ist übel zugerichtet. Ich glaube, die stärkste Blutung ist vaginal. Wahrscheinlich innere Verletzungen. Mann, dieser Psycho hat sich wirklich an ihr ausgetobt.»
«Schneid die Fesseln durch, Mei.»
Eine vierte Stimme. Tief, schwerer New Yorker Akzent. «Langsam, Leute, die Schnur ist Beweismaterial. Macht sie nicht kaputt. Zieht euch Handschuhe an. Die Spurenermittlung muss alles eintüten und beschriften.» Scheinbar war das Zimmer jetzt voller Menschen.
«Jesus, ihr Handgelenke sind total zerfetzt.» Eine entsetzte, völlig verstörte Stimme.
Aus Polizeifunkgeräten krächzte und bellte es Kommandos. Schrille Sirenen, mehr als eine, wurden lauter. Das Klicken einer Kamera, das Zischen eines Blitzlichts.
Jetzt ärgerliche Stimmen. «Vorsicht, Vorsicht! He, Mei, wenn du das hier nicht verkraftest, dann steh auf und geh raus. Das ist der falsche Moment, um zusammenzuklappen.»
Ein paar Sekunden herrschte Stille, dann wieder Stimme Nummer eins: «Leg eine Infusion und gib ihr Morphium. Sie ist ungefähr eins fünfundsechzig, 50 bis 55 Kilo schätze ich. Ruf die Unfallstation im Jamaica Hospital an und sag ihnen, wir haben eine vierundzwanzigjährige Weiße mit zahlreichen Stichwunden, möglicherweise innere Blutungen, höchstwahrscheinlich Vergewaltigung, schwerer Schock.»
«Okay, okay, jetzt hebt sie vorsichtig hoch. Vorsichtig! Auf mein Kommando. Eins, zwei, drei.»
Heftig, beißend wogte der Schmerz durch ihren Körper. «Mein Gott. Das arme Mädchen. Weiß irgendjemand ihren Namen?»
«Ihre Freundin draußen sagt, sie heißt Chloe. Chloe Larson. Sie ist Jurastudentin am St.
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