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Curia

Curia

Titel: Curia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oscar Caplan
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Vaterunsers und aller christlichen Gebete, nicht »So sei es«, wie jeder Christ glaubt, so Raisa, sondern es sei der Name des ägyptischen Sonnengottes Amen, der in der hieratischen Umschrift der Hieroglyphen auch Amon und Amun lautet. Die Ägypter pflegten Amun am Ende jedes Gebets anzurufen.
    »Oder nimm den Satz ›Unser tägliches Brot gib uns heute‹«, fuhr Raisa fort. »Ich habe im Alten und im Neuen Testament alle Stellen herausgesucht, in denen das Wort ›Brot‹ vorkommt. Auch hier hat Pico recht. Das ›Brot‹ des Vaterunsers und der Bibel, im Alten und wie im Neuen Testament, ist das ›Brot der Gegenwart Gottes‹ aus der Septuaginta, das von Bezalel hergestellt wurde. Ein ganz besonderes Brot, da Bezalel ein Goldschmied war, und ein Brot, das nichts mit dem Brot der Kirche zu tun hat.«
    »Ist das deine Interpretation?«
    »Ganz und gar nicht.« Raisa blätterte in ihren Notizen. »Nehmen wir das Johannesevangelium, 6,31–35 und 6,48–51. Der Verfasser weiß es wahrscheinlich nicht, aber er bestätigt die Rolle des Weißen Brotes in der ägyptischen Theologie voll und ganz.«
    Jesus habe zu der Menge am Ufer des Sees Tiberias gesprochen: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Nicht Mose hat euch das Brot vom Himmel gegeben, sondern mein Vater gibt euch das wahre Brot vom Himmel … Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben in der Wüste das Manna gegessen und sind gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf dass, wer davon isst, nicht sterbe.«
    »Dann ist das Brot des Neuen Testaments also besser als das des Alten.« Constance nahm einen Zug von ihrer Zigarette. »Nieder mit Moses, Jesus lebe hoch! Das ist doch lächerlich, es hört sich an wie Reklame. Wer auch immer Jesus wirklich war, so etwas Dummes kann er nicht gesagt haben.«
    »Genau. Ein echter Messias hat es nicht nötig zu sagen, seine Ware sei besser als die der Konkurrenz. Der wirkliche Jesus war sicher klüger als der, den die Bibel beschreibt.«
    »Mir klingt das eher nach dem Antisemitismus der frühen Kirchengeschichte.«
    »Die Kirche hat sich die Evangelien so zurechtgezimmert, wie es ihr passte. Sie sind keineswegs das Wort Christi, sondern das von Schreibern aus den ersten frühchristlichen Jahrhunderten«, sagte Raisa.
    Die Originaltexte des Neuen Testaments, einschließlich der Evangelien, seien verloren gegangen. Forschungen hätten ergeben, dass die Evangelien zwischen 70 und 115 nach Christus von unbekannten Verfassern geschrieben wurden. Die paläografische Analyse der ältesten Versionen des Evangeliums, der Fragmente P 52 und P 75, zeige, dass es nicht von einem Fischer geschrieben wurde, der nur das Aramäische beherrschte, sondern von drei hochgebildeten jüdischen Autoren, die Griechisch sprachen.
    Die Schreiber, die die mündlich überlieferten Berichte über Jesus niederschrieben, und die Autoren, die die Bücher des Neuen Testaments in den frühchristlichen Jahrhunderten kopierten, hätten sich alle Freiheiten herausgenommen, erklärte Raisa. Wenn ihnen etwas nicht gefiel, veränderten sie es durch Streichungen, Hinzufügungen oder eigene Interpretationen.
    Bis heute seien 5700 handschriftliche griechische Versionen des Neuen Testaments katalogisiert, einige davon aus dem zweiten Jahrhundert. Die Varianten wurden von Fachleuten auf mindestens dreihunderttausend geschätzt – mehr als es Worte im Neuen Testament gab, und viele waren von erschütternd großer Tragweite.
    Kein Zufall also, dass Konstantin und die Vertreter der Kirche beim Konzil von Nikäa aus über dreihundert Evangelien die vier auswählten, die ihnen besonders gelegen kamen, und alle anderen ausschieden, darunter auch die aus Nag Hammadi, die sogenannten Apokryphen, die ein ganz anderes Bild von Jesus Christus zeichneten als die kanonischen Evangelien.
    »Über die Göttlichkeit Jesu«, sagte Raisa, »wurde per Handzeichen abgestimmt – 316 stimmten dafür, bei zwei Gegenstimmen –, und das unter der Leitung eines Kaisers, der sich natürlich keinen rein menschlichen Jesus erlauben konnte.«
    »Ich frage mich, ob dieser Johannes, wer immer er war, um die Bedeutung dieser Sätze seines Evangeliums wusste«, überlegte Constance.
    »Das bezweifle ich. Wenn die Verfasser des Alten und des Neuen Testaments die wahre Bedeutung des Wortes ›Manna‹ gekannt hätten, hätten sie niemals von ›Brot‹ gesprochen. Vom Ursprung des Wortes ganz zu schweigen. Pico hat recht, das hat mir Théo bestätigt. ›Manna‹ ist die hebräische

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