Curia
Petroleumlampe ins Freie. Der Himmel war übersät mit Sternen, die Glut der Lagerfeuer leuchtete durch die Dunkelheit. Khalid nahm seine Flöte, und Puccinis Oh mio babbino caro erfüllte das Lager.
»Als der Theodolit anhielt und ich den Gipfel dieses Hügels sah, habe ich verstanden, was Unsterblichkeit ist«, sagte Théo.
»Ich weiß, was du meinst. Wenn ich nach Torre del Lago fahre, nehme ich meine Flöte, steige in ein Boot und rudere in die Mitte des Sees. Dort halte ich an, atme diese verzauberte Luft ein und spiele ein Stück von Puccini. Dann spüre ich die Seele des Meisters wehen.«
»Was fühlst du in dem Moment? Bist du glücklich? Wirklich glücklich?«
»Hm, ich weiß nicht, ob ›glücklich‹ das richtige Wort ist. Ich fühle mich, wie soll ich sagen, befriedigt.« Khalid verzog den Mund. »Wenn ich es recht bedenke, ist Glücklichsein wohl etwas anderes. Wirkliches Glücklichsein ist eher so etwas wie ein Reflex.«
»Ein Reflex? Von was?«
»Das ist nicht leicht zu erklären. Ich gebe dir ein Beispiel.«
In Kairo habe er mit ein paar Freunden, einem Pianisten, einem Geiger und einem Kontrabassisten, ein kleines Orchester gebildet. Sie hatten großen Spaß daran, zusammen zu musizieren, aber am glücklichsten machte es ihn, wenn sie für andere spielten.
»Die Moschee hat uns einen Saal zur Verfügung gestellt, und manchmal geben wir Konzerte, gratis natürlich. Beim Spielen sehe ich mir die Gesichter der Leute an. Das Licht, das ich in diesen Augen sehe, das ist das Glück. In diesen Momenten fühle ich mich wirklich glücklich.«
»Du meinst, Glücklichsein ist eine Folge des Glücks der anderen?« Théo zuckte mit den Achseln. »Wenn ich Geige spiele, bin ich für mich allein glücklich. Ich brauche niemanden.«
»Wie kannst du so etwas behaupten, alter Griesgram, wo du nie für andere spielst? Eines Tages musst du mir auch das erklären.« Er spielte weiter. Théo blieb stumm.
»Das Glück ist ein Zwilling«, sagte Khalid und zeigte mit der Flöte auf Théo. »Es ist, wie wenn ich mit Jamila spiele, meiner fünfjährigen Tochter. Mein Glück kommt direkt aus ihrem Glück.«
»Du schließt daraus also, dass man mindestens zu zweit sein muss, um glücklich zu sein. Auch das war mir neu.«
»Schlechte Nachrichten, was? Erzähl das ruhig deinem Freund Sartre. Und auch diesem Zarathustra aus den Bergen.«
Théo dachte an die zwei Fragen, die Osiris dem Verstorbenen stellte: »Hast du Freude bereitet?« und »Hast du Freude empfunden?«
»Weißt du, woran ich gerade denke? An die Zeremonie mit dem Wiegen des Herzens.«
»Du hast sie immer noch nicht verstanden, und das in deinem Alter?« Khalid zeigte auf den Sternenhimmel. »Allah hilft den Mitfühlenden. So steht es im Koran. Und ein Ungläubiger wie du braucht nur die Sterne anzuschauen, um zu verstehen.«
»Um was zu verstehen?«
»Dass niemand sich selbst genügt.« Khalid stimmte die Arie E lucevan le stelle an.
Wieder gingen Théo seine Gedanken während des Sandsturms in der vergangenen Nacht durch den Kopf.
»Khalid, denkst du nie an den Tod?«
Seufzend ließ Khalid die Flöte sinken. »Allah, das lässt sich übel an heute Abend. Wenn du’s unbedingt wissen willst, ich denke nur an den der anderen, an meinen eigenen nie. Und wenn mir gewisse Gedanken kommen, spiele ich Flöte, dann kann ich mir einbilden, unsterblich zu sein. Zufrieden?«
»Ich beneide die Komponisten, alle großen Künstler: Maler, Bildhauer, Schriftsteller …«
»Weil ihr Werk sie unsterblich gemacht hat?«
»So hätte ich vielleicht vor ein paar Wochen geantwortet. Jetzt nicht mehr. Ich beneide sie, weil ihr Werk etwas verändert hat. Hat Puccini in deinem Leben nichts verändert?«
Khalid kratzte sich am Bart. »Théo, wir sind über fünf Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Die Art Unsterblichkeit, von der du sprichst, genießen nur eine Handvoll Menschen. Und alle anderen, uns beide eingeschlossen? Geht deren Leben ganz unbemerkt vorbei? Wird unser Leben völlig bedeutungslos gewesen sein, wenn wir beide nicht mehr sind? So einen Gedanken will ich nicht akzeptieren. Ich denke an Jamilas Lächeln und an die Augen unserer Zuhörer in der Moschee und sage mir, dass mein Leben zu etwas nütze war. Jawohl, mein Herr!« Er spielte weiter.
Théo betrachtete den Himmel, und ein mit violetter Bougainvillea geschmückter Pavillon erschien vor dem Mond.
Unter der sengenden Sonne fielen die Terrassen mit den Weinstöcken bis zur Bucht von
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