Curia
verband. Die Familie warf den Höflingen, die sich unter ihnen auf der Königlichen Straße drängten, goldene Armreifen und Ketten zu.
Auf einem anderen Fresko standen Echnaton und Nofretete, die Hände zum Himmel erhoben, vor dem Altar des Großen Tempels, auf dem Obst, Gänse und Blumen als Opfergaben dargebracht wurden. Der Tempel hatte kein Dach, die Sonne drang in jeden Winkel, und die ankh von Atons Strahlen streiften den Pharao und seine Königin.
Der Lichtkegel der Taschenlampe tastete sich über die bunten Säulen des Großen Aton-Tempels und über die Musiker, die Harfe und Laute spielten. Die Opfergabe für Aton war ein Fest aus Licht, Farben und Musik. Verschwunden war das Dunkel des heiligsten Bezirks in den ägyptischen Tempeln. In Achet-Aton hatte die ägyptische Kunst das Licht entdeckt.
Beim Betrachten der Sonnenscheibe Atons über dem Tempel fiel Théo ein Passus aus Apions Aegyptiaca ein, den Marsilio Ficino in seinem Pergament zitiert hatte: »Ich hörte die Alten von Ägypten sagen, Moses stamme aus Heliopolis … Er ließ Heiligtümer im Freien innerhalb der Stadtgrenzen errichten, alle zur aufgehenden Sonne gewandt.« Moses hatte Tempel ohne Dach bauen und nach Osten ausrichten lassen. Genauso wie Echnaton. Wann hatte man in Ägypten Tempel ohne Dächer gebaut? Nur während der siebzehnjährigen Regierungszeit Echnatons.
In seiner Erinnerung fiel der Schein einer Taschenlampe auf die Inschrift der Intarsie im Dom: » Hermes Mercurius Trismegistus contemporaneus Moysi .« In den Dialogen der Hermetica wurde Hermes Trismegistos dreimal ›der Große‹ genannt: als König, als Priester und als Philosoph. Wer hätte die Alchimisten von Alexandria sonst inspirieren können, wenn nicht Echnaton selbst?
Lebensfreude, Bewegung, Licht … Aber wo war der Tod geblieben? Auf keinem Fresko gab es Inschriften oder Bilder von Osiris und von der Unterwelt des Duat. Keine Zeremonie, bei der dem Verstorbenen der Mund geöffnet oder sein Herz gewogen wurde, keine Inschriften aus dem Totenbuch. Echnaton hatte den Tod aus seinem Reich verbannt. Dessen Bewohner schienen in ewiger Jugend in einem Goldenen Zeitalter zu leben, wo die Zeit stehen geblieben war.
Die Farben der Hieroglyphen auf einer der Säulen erregten Théos Aufmerksamkeit. Der Text erinnerte ihn an seine Doktorarbeit. Sie hatte sich mit einem Auszug aus dem Großen Hymnus an Aton beschäftigt, dem berühmten Sonnenhymnus, den Echnaton selbst verfasst hatte. Der Hymnus war vom Wissen um eine allumfassende Harmonie durchdrungen, die an Buddha erinnerte, dem Echnaton freilich sieben Jahrhunderte vorausgegangen war.
Du lebendige Sonne, du bist schön, gewaltig und strahlend … Alle Löwen kommen aus ihren Höhlen, alles Gewürm sticht … Kein anderer kennt dich, außer deinem Sohn Echnaton, du lässt ihn kundig sein deiner Pläne und deiner Macht.
Schon während der Arbeit an seiner Promotion war ihm die verblüffende Ähnlichkeit zwischen Echnatons Hymnus und dem Psalm 104 der Bibel aufgefallen. Er hatte die Texte verglichen. Ganze Sätze waren identisch. Ein regelrechtes Plagiat. Die Psalmen waren eine Sammlung von Gebeten des Volkes Israel – wie erklärte es sich, dass der Psalm 104 wie vom Aton-Hymnus abgeschrieben wirkte? Wie war der Hymnus ins kollektive Gedächtnis Israels geraten? Wie waren Josias Schreiber sieben Jahrhunderte später, als sie die ersten biblischen Texte verfassten, an den Hymnus gekommen?
Er dachte an Raisas Vortrag und an die Fotos von Freud, Echnaton und des Moses von Michelangelo auf dem Overheadprojektor. Freud hatte bereits alles begriffen, die Archäologie musste nur noch die Beweise liefern. Adonai war die althebräische Umschrift der Hieroglyphe für »Aton«. Und Jahwe, der andere Name des Gottes Israels? Die Grabungen in Arad im Osten der Negevwüste hatten gezeigt, dass Jahwe nichts anderes war als Yahu, der Vulkangott der Keniter. Diese Fresken hier bewiesen, dass Echnaton sich in das Land Midian geflüchtet hatte. Um den Kreis Aton-Yahu-Jahwe zu schließen, fehlte jetzt nur noch der Beweis, dass die Anhänger Echnatons nach seinem Tod im Exil zum Polytheismus zurückgekehrt waren, indem sie sich mit Kenitern vermischt und deren Yahu-Kult angenommen hatten.
Er schritt durch das Tor zum vierten Saal und richtete die Taschenlampe auf die hintere Wand. Sie war verschlossen, und die beiden Säulengänge endeten dort. Merde , er war doch nicht hierhergekommen, um sich eine Kunstausstellung anzusehen!
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