Cut

das tut mir so leid. Aber keine Sorge. Du hast eine Menge Beistand. Ich habe es allen erzählt.
    Als mein Telefon klingelte, sah ich mir gerade eine Pannenshow im Fernsehen an und benutzte den Spargel statt einer Gabel, um den Kartoffelbrei zu essen. Jetzt, wo ich nicht mehr trinke, sind das so meine Beschäftigungen in Hotels.
    Neil klang atemlos. Es war nicht immer einfach, sein Interesse zu wecken, aber wenn man es geschafft hatte, bekam er einen Tunnelblick, bis er seine Aufträge erledigt hatte.
    «Ich glaube, ich hab’s», sagte er aufgeregt. «Die Verbindung, Mädel. Ich habe sie. Elicia Richardson und David Brooks waren Anwälte, wie du weißt. Und zwar für Zivilrecht, beide. Richardson war nicht Strafverteidigerin, wie die Akte behauptet. Das ist ein Fehler.»
    «Okay, und?»
    «Das zweite Opfer, Bob Shelby, lebte von Erwerbsunfähigkeitsrente und kam kaum über die Runden, aber ihm stand eine große Zahlung aus einem Personenschadensprozess bevor, den er vier Monate vor dem Mord gewonnen hat. Ein, zwei Monate später hätte er sich ein paar Dinge leisten können. Das Gleiche bei Lei Koto. Sie hat eine Klage gegen die Stromfirma gewonnen, für die ihr Mann gearbeitet hat. Er ist bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Der Prozess hat fast sechs Jahre gedauert.»
    Ich versuchte, diese Informationen zu verarbeiten. «Dann gibt es also keinerlei Verbindung zu dieser Sache mit häuslicher Gewalt, aber du meinst, es gibt einen Zusammenhang mit Zivilrechtsprozessen und Zivilrecht im Allgemeinen?»
    «Sieht so aus. Verrückt, oder?», fragte Neil.
    «Allerdings. Vielleicht haben Zivilrechtsprozesse für den Mörder etwas mit Gier und Schikane zu tun. Sie scheinen ihn wütend zu machen, und er sieht die Kläger als Problem. Interessant.»
    «Vielleicht hat er sich vom System verarscht gefühlt. Oder irgendein Richter oder Geschworener hat seine Klage abgewiesen. Vielleicht hat ihm einer sein Geschäft oder sein Auskommen ruiniert. Hey! Da kommt mir eine Idee. Vielleicht kriegt er so seine Opfer dazu, die Tür aufzumachen: Er steigert sich voll in diese Schadenssache rein und tut so, als wäre er behindert. Wenn jemand im Rollstuhl klingelt, macht doch jeder die Tür auf, oder?»
    Darüber könnte man nachdenken. Wir schwiegen einen Augenblick. «Und die Klagen wurden alle im selben County eingereicht?»
    «Richtig. Alle in Fulton. Und so wie’s aussieht, wurden auch die meisten Fälle von Brooks und Richardson in Fulton eingereicht.»
    «Was ist mit LaBrecque und dem ersten Opfer in Florida, Anne Chambers?»
    «Zu LaBrecque gibt es keine Verbindung, und über Anne Chambers habe ich kaum etwas gefunden.» Neil hielt inne, und als er wieder sprach, bebte seine Stimme ein bisschen. «Sie war fast noch ein Kind. Wie konnte man ihr so etwas antun?»
    Wenn man einmal beginnt, über die Gewalt und den Schrecken eines Mordes nachzudenken, wenn man sich indie Angst und Verstörung hineinversetzt, die das Opfer gefühlt haben musste, oder wenn man überlegt, was solche Taten zurücklassen, all die Folge- und Nebenschäden, den Schock und den Verlust und das zerrüttete Leben der Hinterbliebenen, dann bricht es einem das Herz. Neil hatte noch nie so direkt damit zu tun gehabt. Ich schwieg, während er sich sammelte.
    «Versuch herauszufinden, wo ihre Familie jetzt lebt, ja? Ich möchte mit ihren Angehörigen sprechen. Ich rufe Rauser an und sage ihm, was du entdeckt hast. Er wird Freudensprünge machen. Das ist großartig. Tolle Arbeit, Neil. Wirklich.»
    Ich legte mein Telefon hin und dachte einen Moment nach. Waren David Brooks und Elicia Richardson ermordet worden, weil sie Zivilrecht praktizierten? Wie viele Fälle gab es noch, die nicht in der Datenbank geführt wurden oder nicht der Handschrift des Mörders entsprachen? Wir wussten mittlerweile, dass er anpassungsfähig war. Sollte Lei Kotos junger Sohn seine Mutter abgeschlachtet auf dem Küchenboden finden, weil sie beschlossen hatte, eine Stromfirma wegen ihres verunglückten Mannes zu verklagen? Ich musste an den Kohl denken, der angebrannt im Topf auf dem Herd stand, als Tim den Notruf wählte und dann allein bei ihrer Leiche wartete, bis die Polizei eintraf. Ich sehe noch meine ermordeten Großeltern vor mir, wenn ich die Augen schließe, und rieche den nervösen Schweiß der Mörder und das Blut und den Preiselbeersaft, der aus der zersprungenen, vom Regal gefallenen Flasche floss. Bis heute dreht sich mir schon beim Gedanken an Preiselbeeren der Magen um.