Cyber City
Dornen hatten zu tief in seinem Fleisch gesessen.
Die Ironie der Geschichte lag darin, daß er schließlich zu Bewußtsein gekommen war und die ganze verrückte Idee, sich selbst mit voller Absicht wiederauferstehen zu lassen, als absurd verwarf. Sich mit seiner Sterblichkeit alleine fühlen. Die Kopie von aller Schuld freisprechen! Was für ein verdammt gefühlsduseliger Witz wäre das geworden? Und der vermutliche Nutznießer dieser törichten Geste würde noch nicht einmal je etwas davon erfahren, außer – irgendwie – durch Zufall.
Die Schwärze in seinem Schädel schien sich auszubreiten. Ein unsichtbarer Blick in eine unsichtbare Perspektive. Jetzt war jedes Bewußtsein verflogen, daß er sich im Sterbebett der Klinik befand, fast völlig betäubt und gefühllos, blind. Er hatte sich in einer weiten Ebene aus Dunkelheit verloren.
Was hätte er der Kopie eigentlich erzählen wollen? Die elende Wahrheit? Ich sterbe vor Angst. Ich habe Anna aus keinem anderen Grund als Selbstsucht und Feigheit getötet – und jetzt, trotz allem, habe ich Angst, daß es so etwas wie ein Leben nach dem Tod geben könnte? Einen Gott? Gerechtigkeit? Ich habe genügend Rückschritte gemacht, um jetzt darüber nachzudenken, ob dieser ganze kindische Aberglaube sich vielleicht am Ende doch als Wahrheit herausstellen könnte, aber noch nicht genug, um die Möglichkeit zur Reue wahrzunehmen.
Oder eine wohltuende Lüge? Ich sterbe in Frieden, ich habe Vergebung gefunden, meine Geister lassen mich in Frieden ruhen? Und du bist jetzt frei, du kannst jetzt dein eigenes Leben leben. Die Sünden des Vaters werden nicht auf den Sohn übergehen.
Würde das funktioniert haben? Würde das geholfen haben? Eine dümmliche Beschwörung des Glaubens, wie Voodoo, eine schnelle Entschuldigung von jemandem, dessen gemarterte Seele Erlösung finden würde wie in einem Hollywood-Film?
Er spürte, wie er sich durch die Dunkelheit bewegte. Kein Licht am Ende des Tunnels, überhaupt nirgendwo Licht. Sedative Träume, keine Todeshalluzinationen. Der Tod würde noch Tage auf sich warten lassen, und bis dahin wäre er sicher längst wieder im Koma. Eine wenig tröstliche Gnade.
Er wartete. Keine Offenbarungen, keine Einsichten, keine Blitzschläge von blendendem Seelenfrieden. Nur Schwärze. Ungewißheit. Furcht.
Thomas saß regungslos vor dem Terminal. Die Aufzeichnung hatte bereits vor geraumer Zeit geendet.
Der Klon hatte recht behalten: Das ganze Ritual war sinnlos gewesen, ein Fehlschlag. Er war und würde bis in alle Ewigkeit der Mörder sein. Nichts könnte seine Schuld von ihm nehmen, nichts könnte ihn zu einem unschuldigen Softwarekind des toten Thomas Riemann machen. Die Last des Mordes würde für immer auf ihm ruhen, außer er definierte sich völlig neu, schrieb seine Erinnerungen um, änderte seine Persönlichkeit. Formte einen neuen Charakter mit den Resten seines Bewußtseins.
Mit anderen Worten: Außer er starb.
Das waren seine Möglichkeiten – mit dem Bewußtsein des Mordes zu leben und als Person intakt zu bleiben, oder eine neue Persönlichkeit zu schaffen, die nur zu einem Teil aus dem bestand, was ihn einmal ausgemacht hatte.
Er lachte ärgerlich auf und schüttelte den Kopf. »Ich werde mich nicht selbst durch einen Fleischwolf drehen. Ich habe Anna getötet. Ich war's. Das ist es, was ich bin: Annas Mörder.« Er griff nach der Schmach, die ihm anhaftete, und er streichelte sie, als wäre sie ein Talisman.
Er blieb noch länger sitzen und durchlebte im Geist erneut die Nacht in Hamburg. Tränen der Scham liefen über sein Gesicht.
Dann schloß er den Barschrank auf und wandte sich Selbstvertrauen und Optimismus zu. Das Ritual war erfolglos gewesen – aber wenn schon nichts sonst, so hatte es ihn wenigstens seiner Illusion beraubt, daß es anders sein könnte.
Einige Zeit später dachte er über den Klon nach. Wie er langsam in die Narkose gefallen war. An einer grob modellierten Fortführung der Krankheit litt, die beim Original schließlich zum Tod geführt hatte – das dann, im Augenblick des Todes, in einen simulierten neuen Körper geschlüpft war, jung, gesund und mit einem Gesicht, das von einer Fotografie Weihnachten 1985 stammte.
Sofortige Wiederauferstehung. Nur eine Formalität, weiter nichts. Das Skript hatte den jungen Mörder eingefroren, nicht ihn geweckt.
Und nun?
Thomas war viel zu erschöpft, um sich jetzt noch den Kopf darüber zu zerbrechen. Er hatte getan, was er tun mußte, um das Ritual
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