Cyboria - Die geheime Stadt
reisen, um aufs Schiff zu gehen. Warum nur? Warum?
Atamante hat mir erklärt, dass er Tag und Nacht nur an Professor Zischs Idee gedacht und schließlich entschieden hat, zu bleiben.
Als ich ihn gefragt habe, was er mit »Professor Zischs Idee« meinte, blieb er mir die Antwort schuldig. Er wich aus, sprach von seiner Vision einer besseren Welt, einer Welt ohne Kriege. Von einer glücklichen Zukunft. Darin kann ich nichts Falsches sehen. Aber um Zischs Idee zu realisieren, müsste er das Land verlassen. Und er will nicht einfach verschwinden, er will bleiben. Bei mir!
Das sollte wohl Ausdruck seiner Liebe sein, aber für mich hat das alles keinen Sinn, das sind die Worte eines Menschen, der von irgendetwas gequält wird …
Medea seufzte. »Wenn mir jemand so etwas gesagt hätte, würde ich vielleicht meine Tage heute nicht damit verbringen, in alten Gemäuern rumzubuddeln …«
Otto lächelte. Auf den folgenden Seiten wurden Armillas Eintragungen immer spärlicher und hastiger.
Ich habe Atamante noch einmal gesagt, dass seine Entscheidung falsch ist. Ein solches Angebot darf man nicht ausschlagen, zumindest nicht so kurzfristig. Ein anderer Student hätte an seiner Stelle fahren können, wenn er dem Professor früher Bescheid gesagt hätte. Man kann sich nicht am Abend vor der Abfahrt entscheiden, in Pisa zu bleiben.
»Wenn man im Nachhinein bedenkt, was mit dem Dampfschiff passiert ist, hat Atamante recht damit gehabt, nicht zu fahren«, sagte Medea.
»Meinst du, er hat gewusst, dass die Ancona untergehen würde?«
»Nein, aber vielleicht …«
»Hatte er eine Vorahnung?«
»Möglich, auch wenn ich lieber daran glauben will, dass er wegen Armilla geblieben ist. Lies weiter!«
»Viel gibt es nicht mehr …«, sagte Otto und blätterte die immer spärlicher beschriebenen Blätter des Tagebuchs durch. »Armilla erfährt vom Untergang des Schiffs und ist glücklich, dass Atamante nicht an Bord war. Er habe es geahnt … Warte! Hier schreibt sie, dass Atamante das Projekt der drei Professoren für eine einzige Verrücktheit hält. Dass die Reise nicht gemacht werden dürfe und dass niemand von ihnen je in der Neuen Stadt ankommen würde.«
Bei diesen Worten machte etwas in Ottos Kopf »klick«. Geh du!
»Das Projekt der drei Professoren?«, fragte Medea. »Und von welcher Neuen Stadt ist da die Rede?«
Otto schlug sich die Hand vor den Mund. »Das ist es, wo ich hingehen soll.«
»Was sagst du?«
»Als Atamante meinem Großvater das Ikosaeder übergeben hat, hatte er eine kurze Nachricht beigelegt, auf der stand: Geh du! Aber Primo hat nie verstanden, was er damit sagen wollte, und ihn auch nie danach gefragt. Opa hat gehofft, dass ich diese Aufforderung vielleicht verstehen und das Rätsel lösen könnte. Und jetzt diese Reise in die Neue Stadt …« Otto fühlte, wie ein Beben seinen Körper packte, das von ganz weit her kam, wie das Brüllen eines wilden Tieres, das gerade erwacht war. »Es steht alles in diesem Tagebuch … Wenn das Großvater gelesen hätte! Wir müssen … nein, ich muss verstehen, Tante Medea … um was es hier geht und was auf diesem Dampfschiff passiert ist.«
»Was heißt da passiert? Dein Ururgroßvater hat sich entschlossen, bei dem Menschen zu bleiben, den er geliebt hat, statt sich mit acht Studenten und einem Professor auf eine Reise zu begeben, das ist passiert … Und dann ist ein Schiff von den Österreichern versenkt worden.«
»Österreicher, sagst du? Oder Engländer?« Otto sah sie aufmerksam an.
Medea lachte: »Das Schiff ist gesunken, Otto. Forscher haben die Überreste vor einigen Jahren vor der sardischen Küste gefunden.«
»Könnte es nicht vielleicht auch so gewesen sein, dass der Professor und die Studenten … gar nicht an Bord waren?«
»Und warum? Du hast doch die Todesanzeige gelesen, oder?«
»Das beweist gar nichts.«
»Es gibt überhaupt keinen Grund, weshalb …«
»Doch, um unterzutauchen. Armilla glaubte doch auch, dass Atamante nicht verschwinden wollte.«
»Damit meinte sie doch sicher, dass er nicht nach Amerika wollte, während Italien im Krieg war, oder?«
Otto war nicht überzeugt. Da stimmte etwas nicht: Atamante, die Schachtel mit dem Ikosaeder, eine kurzfristig abgesagte Schiffsreise, die Familien Liguana und Folgore, die seit damals auf rätselhafte Weise miteinander verbunden waren, ein seltsamer deutsch-italienischer Professor, der ein noch seltsameres Bild gemalt hatte, ein imaginärer Stadtplan mit einem »x« am Standort der
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