Cyrion
eine Fähigkeit, die sie sich schon vor langer Zeit gezwungenermaßen angeeignet hatte. Auch hatte sie sich die Wohltat der Tränen geraume Weile versagt, und dies war seit dem Tod von Roilant von Beucelair die erste Gelegenheit, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, ohne daß sie befürchten mußt, dabei gestört zu werden.
Ihr Tränenstrom begann und versiegte allerdings mit bemerkenswerter Plötzlichkeit. Bei dem Leben, das sie geführt hatte, war es lebensnotwendig gewesen, andere zu täuschen. Außerdem verfügte sie, wenn sie es wollte, über eine bewunderungswürdige Selbstdisziplin. Sobald sie den Höhepunkt ihres Gefühlsausbruchs erreicht hatte, beruhigte sie sich. Eine Minute später, und sie wandte sich mit undurchdringlichem Gesicht und trockenen Augen der Tür ihrer Kammer zu. In diesem Augenblick ertönte ein kaum hörbares Rascheln auf der Schwelle. Vielleicht war es nichts weiter als ein Blatt, das von einem Windstoß umhergewirbelt wurde. Jhanna, die über mancherlei Dinge Bescheid wußte, glaubte nicht daran.
Mit lautlosen Schritten durchquerte sie den Raum und schlug den Vorhang zurück. Niemand war zu sehen, aber auf der Schwelle lag ein kleines Päckchen. Vorsichtig hob sie es auf. Erst drehte sie es in den Händen, und dann roch sie daran. Sehr behutsam öffnete sie es. Etwas Schimmerndes fiel zu Boden. Jhanna betrachtete es, dann bückte sie sich und hob es auf. Ein langer Seidenschal, der mit silbernen Sternen bestickt war, tanzte zwischen ihren Fingern. Ein Schal von der Art, wie eine vornehme Dame ihn wohl benutzte, um ihr Kleid oder ihr Haar zu schmücken. Ohne auf ihr ärmliches Gewand zu achten, das sie nach Jobels tobsüchtigem Angriff über der Brust wieder zusammengenäht hatte, hob Jhanna den Schal in die Luft und ließ ihn auf ihren Kopf herabschweben. Die silbernen Sterne glitzerten, ihre silbernen Augen aber nicht, als sie über den Hof ging und in die Küche trat.
Harmul war damit beschäftigt, die Öfen zu reinigen. Oder tat wenigstens so. Nach einer Weile, während der das Mädchen nichts sagte und sich nicht bewegte, drehte Harmul sich mit sichtlichem Widerwillen herum.
»Gefällt dir«, fragte Jhanna, »mein Schleier?«
Harmul wurde bleich und betrachtete seine schmutzigen Zehen.
»Sieht er nicht aus wie der Schal einer vornehmen Dame?« erkundigte Jhanna sich zuckersüß. »Ich fand ihn gerade eben vor meiner Tür. Das Geschenk eines Dämonen. Es war niemand zu sehen. Sollte ich ihn annehmen?«
Harmul wand sich.
»Du hast einmal gesagt«, brachte er hervor, »daß du gerne - daß dir -« Er verstummte.
»Ein silberbestickter Schal gefallen würde«, sagte Jhanna sehr, sehr leise. »Aber wo hast du diesen Schal her?«
»Aus Cassireia. Aus der Straße der Seidenhändler. Ich habe ihn gestohlen.«
»Ah!« Wie in Anbetracht ihrer eigenen Kindheit nicht anders zu erwarten, fand das ihren Beifall. »Und er ist für mich?«
»Ja.«
»Dann danke ich dir. Aber was erwartest du als Gegengabe?«
Harmul, den seine Gefühle überwältigten, warf sich zu Boden.
»Meine Liebe?« Da er den Kopf nicht hob, konnte er nur hören, wie ihre kräftigen Hände den Schal zerrissen. Die beiden Hälften ließ sie vor ihm auf die schmutzigen Steinplatten fallen. »So einfach kann man mich nicht kaufen«, sagte sie. »Ich weiß, wem du in Wahrheit dienst. Nimm dich vor mir in acht.«
Harmul antwortete mit einem angstvollen Murmeln. Bevor er seine Worte noch einmal wiederholen konnte oder sie Gelegenheit hatte, ihn anzuspucken, wozu sie nicht übel Lust zu haben schien, stieß jemand an der Vorderseite des Hauses einen Ruf aus. Beide erkannten Zimirs Stimme.
Harmul sprang auf und rannte durch den Torbogen in den Hof vor dem Herrenhaus. Jhanna folgte ihm langsamer.
Zimir, dem es langweilig geworden war, mit Steinen nach einem der blauen Löwen an der Zisterne zu werfen, war in eine der Palmen hinaufgeklettert. Von seinem luftigen Platz aus überblickte er die Hofmauern und die Obsthaine. Er hielt nach nichts Besonderem Ausschau und war ziemlich überrascht, als etwas Besonderes auftauchte.
Bei einem Blick über die Schulter bemerkte Jhanna, daß Mevary sich leichtsinnig aus einem der bedenklich aussehenden hohen Fenster über dem säulenflankierten Eingang lehnte. Er trug schon wieder einen neuen Anzug, farblich auf seine Augen abgestimmt, und wirkte trotz aller Unsicherheit arrogant. Er hatte keinen Blick für sie, und sie, während sie ihn ansah, malte sich seinen blutigen und
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