Cyrion
dem Grab erwähnt. Daß man ihn nicht, wie den unglücklichen Jobel, einfach irgendwo verscharren würde, ergab sich aus der Ankunft der an Roilant adressierten Papiere. Wie Mevary mit so bewunderungswürdiger Intelligenz bemerkt hatte: vermacht jemand seinen Besitz dem König statt den rechtmäßigen Erben, ließ das vermuten, daß er einen äußerst unschönen Verdacht gegenüber den besagten Erben hegte. Deshalb war es nicht geraten, Roilants Tod bekannt werden zu lassen, noch durch frisch aufgeworfene Erde die Neugier irgendwelcher Leute zu erregen, die vielleicht vorbeikamen, um sich die Verwandtschaft des großzügigen Erblassers einmal anzusehen.
Cyrion hatte das Grabmal unter dem Baum mit den gelben Blüten in der Nacht der Geister aufgesucht. Er hatte eine Zeitlang mit Hammer und Meißel gearbeitet, bis er knapp über der Erdoberfläche an verschiedenen Stellen kleine Löcher in die Grabeinfassung gehauen hatte. Der Stein, der von der Feuchtigkeit schon angefressen war, setzte ihm nicht viel Widerstand entgegen. Die Löcher, obwohl nur bescheidenen Ausmaßes, reichten aus, um jedes lebende Geschöpf im Inneren mit der nötigen Atemluft zu versorgen.
Niemand hatte Cyrion-Roilants Körper für die Grablegung vorbereitet. Cyrion hatte nichts anderes vermutet. Bei jemanden, an dem man sich des Mordes schuldig gemacht hat, wäre das der reine Hohn gewesen. Außerdem war wegen des warmen Wetters Eile geboten. Deshalb waren die Polster an Cyrions Körper unentdeckt geblieben, wie auch die nützlichen Gegenstände, die er darin untergebracht hatte.
Cyrion in Stein war als etwas Vorübergehendes gedacht und nicht für die Ewigkeit.
Sobald der Grabdeckel sich knirschend vor die sternenklare Nacht schob, machte Cyrions Bewußtsein sich daran, den ruhenden Körper wieder ganz ins Leben zurückzurufen. Daß er dieses Sterben und dieses Wiedererwecken schon früher praktiziert hatte, ist unzweifelhaft logisch. Daß eine gewisse Desorientierung und eine mystische Verzückung zu dem Ritus gehörten, ist anzunehmen. Aber auch wenn es so war, ließ sich Cyrion nicht aufhalten. Er traf sofort alle Vorbereitung, um sich aus seinem Gefängnis zu befreien. Auch das war logisch. Das einzig Ungewöhnliche an seinem Vorgehen war, daß er statt zu versuchen, den Grabdeckel beiseite zu schieben, sich entschlossen hatte, nach unten zu entfliehen.
Es gab eine Wasserader unter Gerris’ Ruhestätte, das verrieten der Zustand der steinernen Grabeinfassung, das Moos und der kleine Baum, der bei dem Grab in die Höhe geschossen war, während überall sonst auf den Klippen nur dürres Gras und eine Handvoll ärmlicher Blumen gedieh. Vielleicht hatte es auch unter dem Spukbrunnen in dem überdachten Gang eine Wasserader gegeben, die in die große Höhle geführt hatte, welche sich unter den Klippen erstreckte. An dem Brunnen konnte man einschätzen, wie dick der feste Grund zwischen der Höhle und der obersten Erdschicht war. Ungefähr zehn Meter massiver Fels, denn das war grob gerechnet die Länge des eigentlichen Brunnenschachts. Andererseits mußte der Fels unter dem Badehaus dünner sein, sonst hätte sich der Boden nicht so weit abnutzen können, daß der Lichtschein aus der Höhle durch den Boden des Heißwasserbeckens schimmerte. Das Herrenhaus wiederum, obwohl in einem Zustand fortgeschrittenen Verfalls, schien fest auf seinen Fundamenten zu ruhen. Aber außerhalb der Gartenmauer hinter dem Badehaus war der Grund ständig in Bewegung.
Die Gräber verlagerten sich, und die Steine hoben sich aus dem Boden. Die Schräglage des Turmes wurde von Jahr zu Jahr bedrohlicher. Der Schluß lag nahe, daß der Fels unter dem Grab weder besonders dick, noch besonders fest war.
Nachdem die erste der dünnen Kerzen, die er aus seinem Bauchpolster genommen hatte, brannte, verfrachtete Cyrion den Leichnam, mit dem er seine Unterkunft teilte, in eine Ecke. Es zeigte sich, daß der Boden unter der Leiche morscher war, als auf der anderen Seite, wahrscheinlich eine Folge der Wechselwirkung zwischen verwesendem Fleisch und moderndem Stein. Während nach neuneinhalb Jahren von ersterem nicht mehr viel übrig war, hatte letzteres sich nur noch verschlimmert.
Cyrion machte sich an die Arbeit, aber mit Bedacht, denn durch die Löcher kam nur wenig frische Luft herein und das Grab war immer noch stickig und eng. Wo es ging, arbeitete er im Dunkeln, um die drei Kerzen nicht vorzeitig zu verbrauchen. Das Werkzeug, Hammer, Meißel, Stemmeisen und Keile
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