Cyrion
zauberte er aus den Polstern an Brust, Rücken und Armen hervor. Zusammen mit einem langen Seil.
Die Aufgabe war schwer, aber nicht hoffnungslos. Schon in den ersten fünf Minuten, als eine große Steinplatte losbrach, wurde der Geruch nach feuchter Erde wahrnehmbar. Zwei Stunden später spürte Cyrion einen Luftzug. Jetzt roch es nicht mehr nach frischem Wasser, sondern nach faulendem Tang und Salz.
Als die letzte Kerze fast heruntergebrannt war, lösten sich Fels- und Erdbrocken vom Rand der ganz ansehnlichen Öffnung und stürzten in die Tiefe. Das Poltern und Rauschen war eine ganze Weile zu hören.
Cyrion säuberte den Boden des Grabes. Er schlug einen Eisenhaken in den Fels unmittelbar unter dem Loch, befestigte das Seil daran und ließ sich vorsichtig ein kleines Stück hinabgleiten. Dann griff er noch einmal nach oben, nahm die Kerze und stellte sie auf einen passenden Felsvorsprung. Anschließend zog er den nützlichen Leichnam wieder an seinen angestammten Platz, so daß er über der Öffnung zu liegen kam und sie vollständig verdeckte.
Dann ließ sich Cyrion in die immer undurchdringlicher werdende Dunkelheit hinunter.
Einen Augenblick später machte er Bekanntschaft mit dem kleinen Rinnsal, das er schon seit einiger Zeit gehört hatte. Obwohl das Bad eher unfreiwillig und überdies kalt war, befreite es ihn wenigstens von dem Staub des Grabes. Das Rinnsal begleitete ihn ein kurzes Stück bei seinem Abstieg, bis es in einem Spalt verschwand, der für ihn zu eng war. Bald danach erlosch der schwache Lichtschimmer der letzten Kerze und nur die undurchdringliche Dunkelheit blieb. Was ihn noch erwartete, war ungewiß. Er vermutete allerdings, daß der Spalt, in dem er sich befand, nach vielen Windungen und Biegungen in die Höhle mündete. Während er sich seitlich die schmale Röhre entlangtastete, mußte er daran denken, daß der trügerische Fels, der seinem Werkzeug so schnell nachgegeben hatte, auch unter dem Druck des Eisenhakens brechen konnte, an dem er das Seil, seinen einzigen Halt, befestigt hatte.
Aber auch die gefährliche Lage, in der er sich befand, gehörte zu seinem Plan: heimlich und unbemerkt Nachforschungen anzustellen und durch sein Verschwinden so viel Durcheinander und Ungewißhe it wie nur möglich hervorzurufen.
Daß Roilant in diesem Akt des Dramas keine Rolle spielte, war Absicht. Roilants schauspielerische Fähigkeiten waren begrenzt. Um andere Leute zu überzeugen, daß er glaubte, Cyrion sei ermordet worden, mußte er es tatsächlich glauben. Daß Roilant aus eigenem Antrieb einen Spitzel nach Flor geschickt hatte, hatte Cyrion beinahe vermutet, aber zu dem Zeitpunkt, als der Söldner seinen Posten bezog, war Cyrion zu sehr mit seiner eigenen Vergiftung und deren Auswirkungen beschäftigt gewesen, um sich noch Gedanken um Spitzel aus seinem eigenem Lager zu machen. Genaugenommen war beabsichtigt, daß Roilant auf das Ausbleiben einer bestimmten Nachricht von Cyrion hin mit seinen bombastischen Anschuldigungen in Flor auftauchen und einen gewaltigen Aufruhr bei der Suche nach seinen sterblichen Überresten veranstalten sollte. Da nun Roilant genau wußte, wohin man den Leichnam geschafft hatte, kam die Pointe nicht so recht zur Geltung.
Cyrion hatte Gerris’ Gebeine über die neu geschaffene Öffnung gezogen, so wie man beim Weggehen eben die Tür abschließt. Glücklicher-, aber auch verständlicherweise war die Überraschung über Cyrions Verschwinden so groß, daß niemand daran dachte, das übelriechende Grab einer genauen Untersuchung zu unterziehen. Statt dessen durchforschte man aufgeregt die Umgebung. Die Schlußfolgerung, daß der Gefangene, falls er tatsächlich noch in der Lage war, sich zu befreien, sein Heil in den oberen Gefilden suchen würde, war unvermeidlich. Es gab nichts, das zu einer gegenteiligen Annahme hätte führen können. Es wurden die wildesten Vermutungen - in denen auch Angst vor dem Übernatürlichen mitschwang - darüber angestellt, wie der Dämon in Menschengestalt es fertiggebracht hatte, allein die schwere Grabplatte zu entfernen und dann spurlos zu verschwinden.
Die verdutzten Gesichter zu beobachten, hätte Cyrion sicherlich gelindes Vergnügen befeitet, aber er hatte nicht einmal Muße, sie sich vorzustellen, als er sich in der Dunkelheit, nur auf sein Gefühl angewiesen, an dem Seil hinabhangelte.
Er befand sich jetzt ungefähr fünf Meter unterhalb der Grabstätte, aber das Gestein, das sich vorher vom Rand der von ihm
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