Dämenkind 2 - Kind der Götter
er sich mit Dacendaran unterwegs, immerzu Acht geben. Stets wollte er Mikel zum Stehlen verleiten. Was er stahl, scherte ihn allem Anschein nach gar nicht, nur der Dieberei als solcher maß er Gewicht bei. Die Tat zählte, nicht der Wert des Diebesguts. Aber Mikel blieb seinem Glauben treu und ließ sich durch Dacendarans gefährliche Einschmeicheleien nicht verführen. Er gelangte sogar zu dem Rück
schluss, gänzlich im Gegenteil einen günstigen Einfluss auf den jungen Dieb auszuüben, und hegte letztendlich die Überzeugung, ihn bei mehr als einer Gelegenheit vor Versündigung bewahrt zu haben.
Heute allerdings hatte Dacendaran wahrlich einen Diebstahl vorgeschlagen, von dem nicht einmal Mikel Abstand nehmen mochte.
Dacendaran behauptete, im Turm des alten Kastells gebe es ein mit Eiern gefülltes Schwalbennest. Möglicherweise habe die Schwälbin die Jahreszeiten verwechselt, denn es war fast Winter, und schlüpften die Jungen um diese Jahreszeit aus, müssten sie mit Gewissheit erfrieren. Daher sah Dacendarans edle Absicht vor, das Gelege zu entfernen und an eine wärmere Stätte zu bringen, wo es geschützt ausreifen könnte. Wären die Jungvögel da, wollten sie ihnen Würmer ausgraben und so ihr Leben durch den bitteren Winter retten. Im nächsten Frühling könnte der Schwalbennachwuchs sich wohl selber ernähren und in die Freiheit gelassen werden.
Wie gründlich er die Angelegenheit auch von allen Seiten betrachtete, Mikel entdeckte an Dacendarans Vorhaben nichts Verwerfliches. Unzweifelhaft war es eine gute Tat, die Vogelbrut vorm Erfrieren zu bewahren, und berücksichtigte man, wo das Nest lag, erforderte sie auch Mut. Also willigte Mikel gern ein, obgleich Dacendaran darauf beharrte, das beabsichtigte Rettungswerk als »Eierklau« zu bezeichnen. Seine Zustimmung freute den jugendlichen Dieb gewaltig. Fast gebärdete er sich so überschwänglich wie seine Schwester Kalianah, nachdem Mikel ihr erstmals beteuert hatte, sie zu lieben.
Die Medaloner mussten in der Tat als ein höchst merkwürdiges Volk gelten.
»Aber wie sollen wir ins Kastell gelangen?«, fragte Mikel, während er an Dacendarans Seite in die Richtung des alten Bollwerks eilte. In dieser Hinsicht hatte Dacendaran nichts Genaues geäußert.
Schlick machte das Erdreich schlüpfrig, weil in der Nacht etwas Schnee gefallen war, sich beim ersten morgendlichen Sonnenstrahl jedoch in Matsch verwandelt hatte. Medalons Wetter war Mikel zuwider. Von Herzen wünschte er sich richtigen Schnee, wie man ihn – so ganz anders als dieses halb echte Zeug, das hierzulande alle paar Tage vom Himmel rieselte, nur um Schlamm und Nässe zu verursachen – in Schrammstein oder in Kirchland kannte.
»Kurz vor Sonnenuntergang werden die Schildwachen abgelöst«, erläuterte Dacendaran. »Dann schleichen wir uns hinein.«
Seit dem Tag, an dem Tarjanian Tenragan und Kriegsherr Wulfskling ihn verhört hatten, war Mikel nicht wieder im so genannten Verräter-Kastell gewesen. Er vermied es angestrengt, an jenen Tag zurückzudenken. Um sich willentlich darauf zu besinnen, vergrämte ihn die Erinnerung noch viel zu stark. Selbst den Namen des Kastells empfand er schlichtweg als Verhöhnung.
»Stehen denn auf dem Turm keine Wächter?«
»Hochmeister Jenga ist der Auffasssung, der Turm lohne die Wiederherstellung nicht, und im gegenwärtigen Zustand sei der Aufenthalt droben zu gefährlich. Deshalb bleiben die Wachen auf den Wehrgängen der Mauern. Sind wir erst drinnen, kann uns nichts mehr
aufhalten.« Einer solchen Zuversicht konnte Mikel schwerlich mit kleinmütigen Bedenken begegnen, also folgte er dem Dieb und betete zum Allerhöchsten, dass Dacendaran Recht behalten möge. »Außerdem ist heute Gründungsfesttag«, fügte Dacendaran heiter hinzu. »Daher hat Hochmeister Jenga einen freien Tag ausgerufen. Es dürften nur ganz wenig Wächter zu sehen sein.«
»Was für ein Gründungsfesttag?«
»Die Medaloner feiern den Tag, an dem sie Medalon den Harshini geraubt haben.« Plötzlich blieb Dacendaran stehen und grinste Mikel zu. »Eine aufregende Zeit war das damals, das glaube mir. Die anderen schäumten vor Wut. Ein Diebstahl derartigen Ausmaßes machte mich für eine Weile gar mächtiger als Zegarnald, aber dann veranstaltete die Schwesternschaft die Säuberung, Kämpfe brachen aus, und bald war ich wieder der gewohnte Alte. Für eine gewisse Zeitspanne allerdings weilte ich auf den höchsten Höhen der Macht.«
»Wovon sprichst du überhaupt,
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