Dämon
Die Karbondatierung der Schriftrollen jedoch hat ergeben, dass sie mindestens fünfzig Jahre älter sind, also aus der Zeit um das Jahr 17 stammen. Ich glaube, die Römer waren die zweiten Invasoren – die ersten waren jene Schreckenswesen, die in den Schriftrollen beschrieben sind.«
»Also ist die Geschichte, wie sie in dem Abschnitt geschildert wird, keineswegs metaphorisch zu verstehen?«, fragte McKenna.
Ugriumov sah die beiden amerikanischen Detectives für einen Augenblick an. Eine Brise zerzauste ihm von hinten die Haare. »Nein … nein«, sagte er nach kurzem Zögern. »Ich glaube nicht, dass die Geschichte als metaphorisch zu verstehen ist, ganz im Gegenteil. Ich glaube, sie beschreibt ein tatsächliches historisches Ereignis. So wie eine ganze Reihe meiner Kollegen bin ich der Überzeugung, dass diese Schriftrollen die Rückkehr von vier gefallenen Engeln beschreiben. Die Rückkehr von vier Dämonen zur Erde.«
Sie spazierten weiter durch die Museumsgärten, und die untergehende Sonne tauchte die Spitzen der Kräuter und Blumen in goldenes Licht. Doch der Anblick wirkte irgendwie anders als zuvor, weniger still, friedlich und einladend. Die Luft war kühler, die Blumen wirkten abweisend. Jefferson fühlte sich längst nicht mehr an die Parks seiner Kindheit erinnert; stattdessen plagten ihn Visionen von Dämonen, dreizehigen Klauenfüßen und ausgeweideten Leichen.
»Wissen Sie, was das Turiner Grabtuch ist?«, fragte Ugriumov.
»Ja, sicher«, antwortete Jefferson.
»Ist es nicht angeblich das Tuch, in das der Leichnam Jesu nach seiner Kreuzigung eingeschlagen wurde?«, fragte McKenna.
Ugriumov nickte. Er hatte eine Hand tief in der Hosentasche, während er weiterredete und mit der anderen Hand lebhaft gestikulierte. »Das Turiner Grabtuch ist nach dem Glauben einiger Gelehrter eine der Stoffrollen, die von Joseph gekauft wurde, um den verstorbenen Leib Christi darin einzuwickeln.«
»Sie sagen ›eine der Stoffrollen‹«, warf McKenna ein. »Demnach hat es mehr als eine davon gegeben?«
»Stimmt das?«, fragte Jefferson.
»Die zweifelnde Stimme des Ungläubigen.« Ugriumov lächelte. »Ja, es gab zwei Rollen. Zwei verschiedene Rollen Stoff von vergleichbarer Breite und Länge.«
»Woher wollen Sie das wissen?«, fragte Jefferson.
»Sie möchten einen Beweis?«
»Zumindest ein Indiz.«
»Jedenfalls ein wenig mehr als das bloße Wort eines verkalkten alten Museumskurators. Ich verstehe schon.«
»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Jefferson. »Sie sind ein äußerst intelligenter Mann, Nick. Ich möchte einfach nur ein paar …«
»Bestätigungen?«, sagte Ugriumov.
»Nachweise, ja.«
Ugriumov blieb mitten auf dem Weg stehen, so unvermittelt, dass Jefferson ihn fast von hinten umgerannt hätte. Ugriumov drehte sich auf dem Absatz um und wandte sich wieder zum Museum.
»Am besten, ich zeige es Ihnen.«
»Und was?«
»Kommen Sie mit.« Ugriumov ging an Jefferson und McKenna vorbei zum Museum zurück. Trotz seiner Kleinheit bewegte sich der alte Mann mit erstaunlicher Schnelligkeit. Erneut sprach er über die Schulter zu ihnen, was Jefferson an einen seiner Mathematiklehrer erinnerte, der stets mit dem Rücken zur Klasse geredet und dabei Gleichungen an die Tafel geschrieben hatte.
»Ursprünglich wurde angenommen, dass es tatsächlich nur ein Leichentuch für Jesus gab«, erzählte Ugriumov. »Dass Joseph nur ein einziges Leichentuch gekauft hatte. Doch Kreuzigungen in jener Zeit waren eine sehr blutige Angelegenheit. Es war auf jeden Fall mehr als ein Tuch erforderlich, um einen Gekreuzigten einzuwickeln. Joseph und Nikodemus mussten den Leichnam einwickeln, wenn sie ihn in die Höhle bringen wollten. Und noch mehr umwickeln, nachdem sie dort eingetroffen waren.
Bestattungen aus jener Zeit wurden in der Regel mit vier bis fünf Stoffballen durchgeführt. Warum hätte Jesus nur in einen einzigen eingewickelt sein sollen? Das Turiner Grabtuch ist das Einzige, das wir kennen, doch es muss andere gegeben haben.«
Sie hatten die Trauerweide einmal mehr hinter sich gelassen und strebten nun auf den langen Gang mit den Fenstern zu, der die beiden Flügel des Museums miteinander verband. Ugriumov öffnete die Tür, und sie kehrten in den Gang zurück. Ugriumov übernahm erneut die Führung, und Jefferson und McKenna folgten ihm durch die Gänge und Räume.
Der Museumsdirektor wandte sich zu ihnen um. »Bitte fassen Sie von nun an nichts mehr an.«
Dann machte er einen raschen Schritt
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