Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
Verliebtheit entstanden. Aber nicht einmal eine Schonfrist, sich in dieser ihr bislang unbekannten Situation zurechtzufinden, gestand das Schicksal ihr zu. Stattdessen musste sie sich damit abfinden, sofort die nächste Stufe zu nehmen: die Frage danach, wie viel dieser Mann ihr wirklich bedeutete, was sie für ihn zu tun bereit war. Keine Zeit, sich und ihn zu prüfen. Entweder sie setzte den eingeschlagenen Weg fort, auf Gabriel zu, oder sie würde schon bald in ihrem zerwühlten Bett aufwachen. Allein.
Aber allein war nach der Nacht in Gabriels Armen undenkbar. Selbst wenn es ihr nicht gelingen sollte, ihn beim Inkubus auszulösen, würde ein Teil von ihm bei ihr sein und sie daran erinnern, was sie aufgegeben hatte. Unmöglich, gestand sie sich ein. Ich kann nicht ohne ihn gehen, diese Entscheidung hatte sie längst getroffen.
Ella atmete tief ein, dann formte sie einen Gedanken, den sie bislang fortgeschoben hatte.
Ich möchte dich treffen, hier in meinem Traum. Komm, tritt ein.
Es ertönte keine Antwort, aber etwas verschob sich. Eine Strömung in der Luft, ein Bruch in der Nacht.
Ella blickte sich um und bemerkte erst jetzt, dass der Pfad, auf dem sie entlanglief, abrupt vor einem Waldstück endete, dessen Birken sich verjüngten. Der Boden war von Moos
überzogen, das unter ihren Füßen federte. Sie hörte einen hellen Gesang und hielt auf ihn zu. Als sie auf eine Lichtung trat, stockte ihr der Atem, so sehr bannte sie die Schönheit des Ortes. Ein mondbeschienener Weiher, umrahmt von Steinen, nicht größer als der Teich hinter Tante Wilhelmines Villa. Auf seiner Oberfläche trieben winzige Wasserlilien, lauter helle Tupfer. In seiner Mitte stand eine Nymphe, ein Naturgeist von betörender Anmut.
Der Gesang der Nymphe verklang, als sie sich aufrichtete und Ella zuwinkte. Um ihren Unterarm schlangen sich die Wasserlilien wie ein feinmaschiges Netz voller Perlen. Die Farben ihres schlanken Körpers und des langen Haars entsprachen so sehr der Umgebung, dass sie beinahe mit ihr verschmolz.
Eine andere Nymphe, die selbstvergessen auf einem der Findlinge lagerte, zuckte bei Ellas Anblick erst zusammen und stieß dann ein glockenhelles Lachen aus.
Verwunschene Wesen, von denen Ella kaum die Augen nehmen konnte. Doch ihr blieb
nichts anderes übrig, denn mit dem Rücken zu ihr, am Ufer des träge kreisenden Wassers, saß Gabriel. Oder zumindest jemand, der in seine äußere Hülle geschlüpft war. Die Haut schimmerte verräterisch weißgolden und das sonst sonnengebleichte Haar war jetzt blass wie Knochen im Mondlicht. Als er sich langsam umdrehte und ihren Blick erwiderte,
überraschte es Ella nicht im Geringsten, in die vertrauten und zugleich fremden grauen Augen zu blicken. Dass es tatsächlich nicht Gabriels waren, verriet ihr Ausdruck: Komm, biete mir etwas, unterhalte mich, ganz egal, auf welche Weise.
»Drei«, sagte der Inkubus mit seiner berückenden Stimme, die die Atmosphäre zum
Vibrieren brachte. »Es sollten immer drei Nymphen sein. Wie schön, dass du den Weg zu uns gefunden hast. Jetzt sind wir vollständig. Setz dich zu mir.«
Ella rührte sich nicht, sondern musterte ihn.
Aus seinem Haar lugten zwei Hörner hervor, nicht größer als ihr kleiner Finger und von der Farbe angelaufenen Silbers. Seine Ohren endeten in Zipfeln, und bestimmt waren die Zähne hinter dem zum Lächeln geschürzten Mund raubtierartig scharf. Ella versuchte, einen Blick auf seine Füße zu erhaschen, aber sie verschwanden im Farnkraut. Je genauer sie ihn
betrachtete, desto mehr Unterschiede erkannte sie. Etwa das Fehlen des blonden
Haarflaums auf den Unterarmen, den sie bei Gabriel immerzu berühren musste, oder die Brust, die sich zum Atmen nicht bewegte. Der Inkubus imitierte ihn zwar, aber nicht perfekt.
Jedenfalls nicht gemessen an etwas Lebendigem.
»Irre ich mich, oder hast du deine Flöte vergessen?«, fragte Ella ihn provozierend.
Das Lächeln des Inkubus wurde breiter und zeigte, wie vermutet, einen Mund voller
gefährlich spitzer Zähne. »Du bist mein Instrument, und ich werde auf dir spielen. Ich bin sehr gespannt darauf, welche Töne man dir entlocken kann.«
Ella war sich nicht sicher, ob das eine Drohung oder eine Neckerei sein sollte. So oder so, die Vorstellung, erneut von diesen fordernden Glashänden berührt zu werden, erschien ihr nicht sonderlich verlockend. »Ich befürchte, dass die einzigen Töne, die du mir entlockst, aus Fluchen und Heulen bestehen würden.«
»Ich nehme,
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