Dämonen-Reihe Bd. 4 Traumsplitter
Das Banner umwehte Ella und kleidete sie in ein Gewand, leichter als die Berührung des Windes. In diesem Traum würde sie ihr Alltags-Ich zurücklassen und die Frau in ihrer Vorstellung sein. Sie pflückte eine Blume von ihrem Gewand und steckte sie sich hinter das Ohr. Dann streckte sie die Hand aus, und der Garten schnellte heran.
»Sieh an, das Mädchen kann es wirklich«, sagte der ältere Herr in ihrem Rücken, den sie nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte. »Nimm dich in Acht vor dem Inkubus, er wird dich in diesem Paradies erwarten, und seine Vorstellung von einem Garten dürfte
vollkommen anders sein. Sieh zu, dass du erst von ihm erhältst, was du dir wünschst, bevor du ihn bezahlst, diesen nimmersatten Dämon.«
»Das werde ich, keine Sorge.«
Ella warf dem älteren Herrn zum Abschied noch ein Lächeln über die Schulter zu, dann betrat sie ihren Garten.
Kapitel 36
Der Garten in dir
Der Garten lag in einer Finsternis, die ganz anders war als nächtliche Dunkelheit.
Sie war samtig und speiste sich aus geheimen Quellen. Ein schillerndes Mitternachtsblau, das die Blumen nicht davon abhielt, von innen heraus in tiefen Rottönen oder irisierendem Weiß zu leuchten. Silberstaub hing träge zwischen den Bäumen, die um so vieles
urwüchsiger wirkten als ihre gewöhnlichen Artgenossen. Ihre Blätter rauschten, obwohl nur eine Brise ging, und auf ihren Ästen hockten Flechten, die verdächtig nach bärtigen Wesen aussahen. Im Unterholz knackte es, und Ella wusste, wenn sie jetzt eine Weile ganz still stehen bliebe und den Atem anhielte, dann würde ein katzenartiges Wesen aus dem Dickicht hervorlinsen. Das Geschöpf wohnte dort, seit sie es als Kind in einem alten Märchenbuch in Tante Wilhelmines Bibliothek entdeckt hatte. Eine lebendig gewordene Tuschezeichnung.
Eins von den unzähligen Fantasiewesen, zu deren Heimat der Garten geworden war.
Ihr Traum. Ihr alter Traum vom Garten hinter Tante Wilhelmines Villa.
Ein magischer Ort voller Feenspaß und Wunschbeeren.
In Schnörkeln geschriebene Botschaften in Eichelkapseln und Moosgesichter auf Stein.
Wie oft war sie des Nachts wohl in diesen Garten eingekehrt und hatte beim Aufwachen nicht mehr als vage Bilder zurückbehalten? Doch stets verbunden mit dem einzigartigen Gefühl, in diesem Traumgarten eins mit sich zu sein.
Dastehen und staunen.
Umherwandeln und zulassen.
Mit offenen Augen träumen und wahrer sein als je zuvor.
In diesem Garten war es möglich, er war unberührt von irreleitenden Fragen nach Vernunft und Lüge, Idee und Wahn. Der Garten garantierte ihr eine Freiheit, die sie brauchte, um ihren Weg im Chaos der Möglichkeiten zu finden. In dem Moment, als sie ihn wiedergefunden
hatte, war alles in ihrem Leben ins rechte Lot geraten. Weder die zerfallene Villa noch die belastenden Familienverhältnisse oder gar ihre unter dem Druck der Geschehnisse viel zu schnell aufgeblühte Liebe zu Gabriel konnten diese Erkenntnis schmälern. Solange sie ihren Garten hatte, glaubte sie an sich und an ihre Entscheidungen. Er war ihr innerer Kompass.
Obwohl sie das stets geahnt hatte, begriff sie es erst jetzt, da sie inmitten seiner Pracht stand und wusste, dass sie ihn schon bald verlieren würde.
Falsch. Nicht verlieren, sondern aufgeben. Freiwillig. Das war etwas anderes.
Ella ließ sich treiben, spazierte über Pfade, die sie stetig tiefer ins Gartenreich führten, das längst die Dimensionen der Tageswelt überwunden hatte. Sie durchschritt einen sanften Regenschauer, der glitzernd auf ihren Schultern liegen blieb, lauschte dem Wispern und Pfeifen, dem wunderlichen Konzert dieser Nacht. Obwohl sie kein eigentliches Ziel
auserkoren hatte, mied sie eine Stelle ganz bewusst, die es zweifelsohne auch hier geben würde: einen hohlen Baumstamm, der für eine Nacht lang zum Asyl für ein Liebespaar
geworden war – aber daran wollte sie jetzt nicht denken. Es tat auch so schon zu weh, nicht beides haben zu können: den Garten und Gabriel.
Das Verlangen nach ihm war plötzlich so überwältigend, dass Ella innehielt. Sie musste abwarten, darauf hoffen, dass es nachließ, denn sonst konnte sie keinen Schritt weitergehen.
Wie konnten ihre Gefühle nur so große Sprünge machen, dass der Rest ihres bisschen
Menschseins gar nicht mehr hinterherkam? Vor Kurzem erst hatte sie zum ersten Mal vor dem lachenden Gabriel gestanden – ein vielversprechender Sommerflirt. Und bevor sie sich’s versah, war aus dem Sommerflirt eine verwirrende
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