DÄMONENHASS
wissen?«
Ihr Lächeln wurde wärmer.
»Ach, ich lese aus der Hand«, sagte sie und schleuderte sich mit einer Kopfbewegung die Ringellocken aus den Augen. »Wie meine Mutter vor mir. Nur ist es viel leichter, in Gesichtern zu lesen! Und wie ich schon sagte, dein Gesicht – und besonders dein Blick – erzählt eine lange, traurige Geschichte.« Sie hob die Hand und berührte ihn an der Stirn. »Solche tiefen Furchen in einem so jungen Gesicht.« Staunend schüttelte sie den Kopf. Doch bevor er sie weiter befragen konnte, sagte sie: »Genug davon für den Augenblick. Komm mit zu meinem Zelt. Nikha sagt, du brauchst eine Waschgelegenheit. Das bekommen wir hin. Und dann beschaffe ich dir eine Decke.«
Neben ihrem Zelt stellte sie ein Dreibein und eine Schüssel auf und holte heißes Wasser vom Feuer. Ein Rindenstück ergab einen reinigenden, milchigen Saft, mit dem sich Nathan Gesicht und Hände wusch. Als Eleni ihn beobachtete, bemerkte sie, wie er jedes Mal zusammenzuckte, wenn er die Arme ausstreckte.
Er hatte die Lederjacke ausgezogen, trug aber immer noch sein Hemd. »Zieh es aus«, sagte sie.
Er warf ihr einen fragenden Seitenblick zu. Sie waren fast allein auf der Lichtung. Die Männer waren auf der Jagd, die Frauen kümmerten sich um ihre Sprösslinge oder versahen andere Pflichten; Nikha fütterte seine Tiere. »Was soll ich ausziehen?«
»Dein Hemd. Als du dich gebückt hast, ist es hochgerutscht. Ich habe deine blauen Flecken gesehen. Hat man dich geschlagen?«
Geschlagen? Nein, nur beiseite geschleudert – von einem Wesen, das so stark ist wie vier Männer! Dem Wesen, das meine Misha raubte. »Ein
Wamphyri-Lord hat mich fast umgebracht«, gab er schließlich zur Antwort. »Vermutlich habe ich Glück gehabt.«
Er versuchte über seine Schulter in den Stoff des Hemdes zu greifen, schaffte es aber nicht. Vielleicht war das auch ganz gut so. Nikha war zurückgekommen und saß auf dem Treppchen seines Wagens. Als Eleni Nathans Blick sah, fragte sie: »Machst du dir Sorgen, dass mein Bruder uns zusieht? Das brauchst du nicht.« Und noch ehe er antworten konnte, trat sie vor, ergriff mit beiden Händen den Saum seines Hemdes, hob ihn hoch, und als er sich bückte, zog sie ihm das Hemd über den Kopf.
»Jetzt weiß dein Bruder ganz genau, dass ich zu kühn bin«, stöhnte er. »Oder dass du es bist!«
Da lachte sie zum ersten Mal, und ihr Lachen klang so tief und kehlig, wie er vermutet hatte. »Nathan, Nikha wird entzückt sein!«, verkündete sie ihm. »Erkennst du denn nicht, dass er immer noch versucht, mich zu verheiraten?« Aber als sie das Ausmaß seiner Prellungen sah, erstarb ihr Lachen. »Du meinst, du hättest Glück gehabt?«, wiederholte sie seine Worte. »Dein Rücken müsste eigentlich an drei Stellen gebrochen sein! Jetzt warte mal.«
Sie lief an Nikha vorbei in den Wagen und kam wenig später mit einem Lederbeutel zurück, in dem sich eine Salbe befand. »Das stinkt zwar, aber es hilft!«, sagte sie, während sie das Zeug großzügig auf seinem Rücken verteilte. »Beim nächsten Sonnauf sind die Schmerzen vorbei, und bis Mittag sind die Prellungen verschwunden. Ich garantiere es. Wenn wir durch die Dörfer ziehen, garantieren wir Zigeuner für sämtliche unserer Erzeugnisse!« Und wieder lachte sie.
Dann half sie ihm, sein Hemd wieder anzuziehen, nahm ihn mit in ihr Zelt und gab ihm eine Decke. Ihr Bett bestand aus einer wasserdichten, mit Daunen, Kräutern und getrocknetem Farn ausgestopften Lederhaut. Das war für Nathan mehr als genug und er erhob keine Einwände. Als er sich hinlegte, warf sie die Decke über ihn, und er schlief, noch ehe sie das Zelt verlassen und die Plane zugezogen hatte ...
Zahlen bildeten einen Strudel, der Nathan in sich sog, ihn immer wieder
herumwirbelte und in den zentralen Wirbelschlund aus Algebra-Gleichungen hinabzerrte. Nathan wehrte sich nicht dagegen. Für jeden anderen wäre dies ein Albtraum gewesen, aber nicht für ihn. Im Unterschied zu den Toten, die mit Nathan hätten sprechen können, es jedoch nie taten, waren die Zahlen seine Freunde. In gewisser Weise ›sprachen‹ sie zu ihm; nur besaß er nicht die mathematischen Kenntnisse, um ihre Sprache zu verstehen. In einer Welt, die kaum eine Wissenschaft kannte, hatte Nathan keine Ahnung von Mathematik. Was bereits die erste Stunde instinktiv, intuitiv in ihm geweckt hätte, hatte nie eine Chance gehabt, sich zu entwickeln. Bisher jedenfalls nicht.
Aber er begriff sehr wohl, dass die Zahlen
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