Dämonisches Tattoo
heilfroh«, grinste sie. »Jetzt sind aber Sie dran. Erzählen Sie mir etwas über sich. Haben Sie Familie?«
Er erzählte ihr von seiner Schwester Ellen in Frankreich, von seinen Eltern und dem Unfall. Es fühlte sich seltsam an, über sie zu sprechen, und für gewöhnlich tat er das auch nicht. Das Thema war einfach zu persönlich, um seinen Kollegen in einer Bar damit zu kommen. Die meiste Zeit gestattete er sich gar nicht, an seine Eltern oder ihren Tod zu denken. Er hatte geglaubt, längst darüber hinweg zu sein. Als er Kate jetzt jedoch davon erzählte, stellte er fest, dass der Verlust noch immer schmerzte.
Es war vier Jahre her, dass er die Aufnahmen des Wagens gesehen hatte, doch plötzlich hatte er die Bilder des verkohlten Metallskeletts wieder so deutlich vor Augen, als hätte ihm jemand ein Foto in die Hand gedrückt. Er glaubte sogar den Rauch zu riechen, auch wenn es wohl eher nur die Reste des gebratenen Hühnchens waren, deren Geruch noch in der Luft hing. Ein Tankwagen war ins Schlingern geraten und hatte sich auf der Fahrbahn quer gestellt, bevor er umgekippt war und sich die geladenen Chemikalien entzündet hatten. Seine Eltern waren unmittelbar hinter dem Tanklaster gewesen, als es geschah. Selbst eine Vollbremsung und ein Ausweichmanöver hatten den Zusammenprall und die explosionsartige Ausbreitung der Flammen nicht mehr verhindern können. Sie hatten keine Chance – ebenso wenig wie die Insassen von vier weiteren Fahrzeugen, die zu dicht dran gewesen waren.
Noch mehr als die Trauer, die die Erinnerung mit sich brachte, erstaunte ihn Kates Reaktion. Sie versuchte nicht, ihm mit einem Schwall leerer Floskeln ihr Beileid auszusprechen oder ihn in einem Anflug von Sensationsgier dazu zu bewegen, mehr Details über den Unfall preiszugeben. Stattdessen saß sie nur da und hörte zu. Sie ließ ihn einfach reden und versuchte auch nicht, das Thema zu wechseln oder zumindest so schnell wie möglich zu beenden, wie es die meisten getan hätten.
Es war merkwürdig, sie saßen hier und sprachen über einschneidende Ereignisse in ihrer beider Leben, obwohl sie einander kaum kannten. Wenn er mit einer Frau verabredet war, sprach er nicht über seine Familie – zumindest nicht in dieser Ausführlichkeit. Um jemanden kennenzulernen, unterhielt er sich über banale Dinge, Musik und Filme, manchmal auch Bücher. Meistens dauerte es nicht lange, bis die ersten peinlichen Gesprächspausen entstanden, in denen man öfter an seinem Getränk zu nippen begann, um die Stille zu überbrücken. Pausen, in denen er jedes Mal abwägte, wie viel er von sich erzählen sollte, wie viel der andere überhaupt wissen wollte und ab wann sich sein Gegenüber zu langweilen begann. In seinem Fall stellte sich auch oft die Frage,
was
er über sich und sein Leben erzählen konnte, ohne seine Verabredung sofort in die Flucht zu schlagen.
Mit Kate war das anders. Abgesehen davon, dass es sich bei diesem Abend nicht um ein Date handelte, existierte zwischen ihnen auch keine Beziehung, sondern eher eine Form der gegenseitigen Abhängigkeit – sie wollte ihre Story und er ein sicheres Versteck. Es war leicht, offen zu sein, wenn man nicht versuchen musste den anderen zu beeindrucken.
15
Am nächsten Morgen erwachte Chase vom kalten Geruch des Abendessens, der noch im Zimmer hing. Die Couch war zu weich für seinen Geschmack. Da es jedoch kein weiteres Schlafzimmer gab und er Kate das Bett überlassen hatte, würde er sich damit arrangieren müssen.
Es war noch nicht einmal halb sieben, trotzdem war er hellwach. Er stand auf und streckte sich, ehe er zum Fenster ging und es weit aufriss, um frische Luft hereinzulassen. Das Gras hinter dem Haus war feucht vom Tau, die Sonne brach sich in den einzelnen Tropfen und tauchte den Rasen in Regenbogenfarben. Der Garten war nicht groß, ein grüner Schuhkarton, von einer hohen Thujahecke umgeben, die vor neugierigen Blicken schützte.
Chase schluckte zwei Paracetamol und das Antibiotikum und kehrte dann zum offenen Fenster zurück, um ein paar Übungen zu machen. Er zog sein T-Shirt aus und machte Liegestützen und Sit-ups – mehr als sonst, ein Ausgleich dafür, dass er nicht laufen gehen konnte. Der Wind trug den schweren Duft der Thujen herein, der langsam die Essensgerüche vom Vorabend vertrieb. Bald war er in Schweiß gebadet und in seinen Arm- und Bauchmuskeln machte sich ein angenehmes Spannungsgefühl breit. Ein vertrautes Gefühl, das ihm Normalität vermittelte, wo keine
Weitere Kostenlose Bücher