Dahoam is ned dahoam - Bayerische Ein- und Durchblicke
Pfad in ein Wunderland motorisierter Gebirgseroberung.
Neben dem Parkplatz vor der Brücke liegen noch die Überbleibsel des Sommers herum – Sekt- und Weinflaschen in einem kleinen Bachbett und auf dem Brückengeländer steht ein Glas, das früher Spreewaldgurken beherbergte und jetzt voller kleiner, toter Fische ist – vermutlich die Hinterlassenschaft eines vergesslichen Anglers aus den neuen Bundesländern.
Menschenleer sind die Ufer des künstlichen Fjords, nur hin und wieder rumpelt ein Bulldog mit Anhänger vorbei, surrt ein einsames Auto über die Brücke. Wolken hängen in den Bergen, spiegeln sich wie ein graues Frotteehandtuch im See. Es ist kalt, und ich ärgere mich, dass ich keine Handschuhe mitgenommen habe.
Kleine Fische, großer Stausee
Ein Automat verspricht für einen Euro englischsprachige Auskünfte über den Sylvenstein, auf die man in Ermangelung passender Münzen leider verzichten muss. Aber möglicherweise finden sich ja Informationen zur Mutter aller neuen bayerischen Seenländer auch anderswo. Im neuen Fall vielleicht, dem Ort, den sie 1954 als Ersatz für das alte Fall auf höher gelegenem Gelände hingestellt haben. Und wie in den ersatzfreudigen 50er-Jahren, als in den Fischsemmeln knallroter Lachsersatz und auf den russischen Eiern Kaviar aus Seehasenrogen fröhliche Urständ feierten, sieht es am Sylvensteinsee auch heute noch aus: Bayerische Landschaft mit Dorfersatz, heute im Angebot.
In der vermuteten Dorfmitte – einem komplett leeren Platz zwischen einem Erholungsheim der deutschen Polizeigewerkschaft und einem Kirchlein, das an eine Kreuzung zwischen Gnadenkapelle und Sparkassengebäude erinnert – stelle ich den Wagen ab, misstrauisch beäugt von einer alten Frau in blau gemusterter Kittelschürze, die gerade einen Komposteimer aus dem Haus bringt. Ein Auto mit Münchner Kennzeichen, »des ko nix Guads ned sei«. Bevor ich sie ansprechen kann, ist sie auch schon hinter der massiven Haustür verschwunden. Langsam fährt ein orangefarbener VW-Bus an mir vorbei, »Vermessungsamt« steht auf der vorderen Tür, die Männer drin starren mich an, als wäre ich ET, der gerade aus seinem Ufo geklettert ist.
Von den Ortsansässigen sind Informationen zur Geschichte des jungen Dorfes offenbar nicht zu bekommen, aber als ich in meiner Verzweiflung das modernistische Kirchlein betrete, finde ich doch noch, wonach ich suche. Im Vorraum hängt doch tatsächlich eine gut einen Quadratmeter große Schautafel, auf der mit großen, handschriftlichen Lettern »Vom alten Fall zum neuen Fall« geschrieben steht. Darunter ein Mosaik aus bernsteinfarben vergilbten Zeitungsausschnitten mit endzeitschwangeren Schlagzeilen: »Fall erlebt seinen letzten Frühling«, »Das Ende naht«, »Der See verschluckt das Dorf der Jäger und Förster«. Und was für Jäger, möchte man sagen: Ganghofer, Thoma, Feldmarschall Hindenburg – das mag vielleicht ein reaktionäres Völkchen gewesen sein, das hier in diesen Bergen auf alles geballert hat, was ein Geweih oder Krickerln trägt. Vermutlich hätten die Herren die höchste Gaudi mit der kleinen Serie von Schwarz-Weiß-Fotos gehabt, die unter den Zeitungsausschnitten zu sehen ist: Auf dem ersten Foto sieht man einen schon halb im Wasser versunkenen Bauernhof, auf dem nächsten eine gigantische Sprengung, auf dem dritten einen glatten Seespiegel. Peng, das war’s. Weg mit dem alten Fall, her mit dem neuen, das – so kann man in einem der alten Zeitungsartikel lesen – »dereinst wohl eine der größten Attraktionen in den Alpen werden wird«.
Gut, wir sind jetzt in diesem Dereinst, und ist die Prophezeiung wahr geworden? Eher nicht, denke ich, zumindest an einem Herbsttag wie diesem. Die Fenster der Dorfwirtschaft sind dunkel, und würde an der Fassade nicht in altdeutschen Lettern »Gasthof« stehen, könnte das geduckte, lang gestreckte Gebäude mit dem Blechdach auch als Fabrik oder Lagerhalle durchgehen. Vor den Häusern, die aussehen, als wäre eines vom anderen geklont, sehe ich autolose Carports, verlassene Kletterwände und leere Vogelhäuschen. An einem Jägerzaun verkündet ein Schild moralinsauer »Holzklau ist keine Ehrensache«, am Straßenrand steht nackt, kahl und unmotiviert eine drei Meter hohe, weiß-blau geringelte Stange herum, und aus einem Garten gegenüber einer offenbar schon vor Jahren aufgelassenen Bushaltestelle glotzt mir eine lebensgroße Kuh aus Kunststoff entgegen.
Irgendwo, so sage ich mir, habe ich das alles hier
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