Daisy Sisters
Heimweh? Nein, nicht wenn die Stadt und die Straßen so leer sind. Jetzt ist sie richtig angekommen, und jeden neuen Tag fühlt sie sich auch mehr zu Hause in der Zwirnerei. Liisa ist ein feiner Arbeitskamerad, auch wenn sie ein bisschen launisch ist, und sie hat Eivor selbst vor sich gewarnt, am Montagmorgen pflegt sie verkatert zu sein. Aber sie hat versprochen, auf keinen Fall zu Hause zu bleiben. Sie braucht Geld, da ist so vieles, was sie sich kaufen will …
Nein, alles geht schon nach einer Woche leichter. Und wenn Eivor daran denkt, dass sie jetzt schon Geld gut hat, dass sie jeden Nachmittag, wenn sie nach Hause geht, weiß, dass ein weiterer kleiner Betrag darauf wartet, in ihrem Lohnkuvert zu landen, dann wird der Gedanke zu einem Gefühlvon Freiheit. Natürlich will sie das hier schaffen. Wenn sie sich nur erst besser an die Stadt und ihre Menschen gewöhnt hat, dann wird sie sich auch zu Algots hineinschleichen. Sie kann ja nähen, Jenny Andersson hat ihr ein Zeugnis ausgestellt, auf das jeder neidisch werden könnte …
Fleißig, sorgfältig, kann als Schneiderin empfohlen werden!
Viele Gedanken, viele Straßen. Sie versucht, die Namen zu lernen, Allégatan, die ist groß, genauso wie Stora Brogatan und Lilla Brogatan. Da ist der Marktplatz, und da ist das dunkle, bedrohliche Rathaus mit der Polizeistation im Keller. Die Caroli-Kirche, Stengärdsgatan, auf der hügeligen Seite der Stadt.
Da liegt das Stadthaus, ein hohes weißes Steinhaus … Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Rathaus und Stadthaus, denkt sie … Hoch zur Gustav-Adolf-Kirche, ein gelbroter Ziegelbau, vorbei an der Mädchenschule und der Bibliothek, und da liegt die Höhere Allgemeine Oberschule, und dahinter … Nein, weiter geht sie nicht, das scheint die Villengegend zu sein, vornehme Villen mit großen Gärten. Da wohnen wohl die Ingenieure und die, denen eine Fabrik wie Konstsilke gehört, denkt sie. Wieder zum Zentrum, aber einen anderen Weg, Södra Kyrkogatan, alte, schäbige Häuser. Was für ein Unterschied! Sie fragt sich, ob sie wohl jemals einen Fuß in so eine Villa setzen wird. Allenfalls als Dienstmädchen, denkt sie. Wie die, von denen Mutter erzählt hat, in Sandviken, die Nazis waren.
Nein, lass sie in ihren Villen wohnen, sie ist zufrieden mit dem hellhörigen Zimmer im Vorort Sjöbo. Vorerst …
Als sie vor nunmehr vier Jahren den verhängnisvollen Tag gemeinsam mit Lasse Nyman verbracht hatte, war es, als ob eine Lanze direkt in sie hineingestoßen würde. Zuerst wusste sie, was sie nicht wollte, und das war kein schlechter Anfang.Es durfte nicht wie bei ihrer Mama werden. Mit einem Kind am Hals dazusitzen, bevor sie nicht einmal … Ja, wie alt war sie? Achtzehn oder neunzehn? In einem langweiligen Haus zu leben in dem noch langweiligeren Hallsberg. Hausfrau, ein Leben, ausgefüllt mit Abwasch und einer warmen Bratpfanne. Eine Bratpfanne, die nicht erkalten würde, bevor sie starb …
Bloß das nicht! Weg vom Stillstand der Landgemeinde, nie werden wie eine Kuh, die ewig an einem einzigen Grashalm kaut. In die Stadt, zu einer gut bezahlten Arbeit, zu ihrem eigenen Leben. Wie dieses eigene Leben aussehen sollte … Ja, vielleicht wie dieses hier?
Jetzt hat sie einen ersten Schritt getan. Die Straße, auf der sie geht, liegt in Borås, nicht in Hallsberg. Sie hat einen Schritt mit Siebenmeilenstiefeln gemacht. Und niemand hindert sie daran, den nächsten zu tun und dann den nächsten und dann …
Wieder auf der Allégatan eine weitere Runde durch die Stadt. Mehr Menschen sind in Bewegung, mehr Autos … Wie jetzt das Rockerauto da, das unverdrossen um den Busbahnhof kreist. Sie geht den Viskan entlang auf dem Weg zur Algots-Fabrik, die hier in der Nähe liegen soll.
Plötzlich bremst das große Rockerauto, beginnt, neben ihr entlangzurollen, eine Scheibe wird heruntergekurbelt.
Was soll sie jetzt tun? Sie kann schließlich nicht weglaufen oder in den Fluss springen … Ein bleiches Gesicht, dem von Lasse Nyman so ähnlich, dass sie zurückschreckt, ist ihr zugewandt. Sie geht unwillkürlich schneller, aber das Auto bleibt neben ihr. Sie sieht aus dem Augenwinkel, dass fünf Personen darin sitzen, zwei vorne und drei hinten. Was wollen sie eigentlich von ihr … Und natürlich hält das Auto genau in dem Augenblick, als sie überhaupt nicht mehr weiß, was sie machen soll. Außerdem müsste sie die Straße überqueren,um zu Algots zu kommen. Geht sie geradeaus weiter, landet sie wohl bald in Varberg
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