Damiano
selbst zu Friedenszeiten wurde der sommerliche Strom von Reisenden zwischen Aosta und dem Süden nach dem ersten Schneefall zu einem dünnen Rinnsal. Ein Stück voraus war eine zweite Straße, die sich am Fuß der hohen Berge von Westen nach Osten zog und in einer Entfernung von nunmehr etwa zehn Meilen die Straße nach Norden kreuzen würde. Keine Meile entfernt befand sich, wenn man auf dieser Straße nach rechts abbog, ein Dorf, das aus ungefähr zwölf Hütten bestand. Es hieß Sous Pont Saint Martin, ein französischer Name, der länger war als das Dorf selbst. Damiano vermutete, daß es so verlassen sein würde wie Partestrada. Doch es würde ihm wenigstens Zuflucht bieten, vielleicht ließ sich sogar etwas zu essen auftreiben. Doch wenn der Himmel klar blieb, würde er die Nacht hindurch marschieren.
Allein schon bei der Vorstellung allerdings bekam er bleischwere Beine. Es war inzwischen fast Mittag. Schwere Beine und taube Zehen bewirkten, daß das Heer General Pardos ihm als weit ernsteres Problem erschien als nach dem Frühstück. Keinesfalls konnte er sich einfach nach Nürnberg oder Avignon davonmachen, während Pardo die Berge verwüstete. Damiano seufzte tief.
Eine Stunde zuvor schon hatte er die letzten stillen Plätzchen seiner Kindheit hinter sich gelassen und befand sich jetzt in einer leuchtenden, wilden Landschaft, die ihm unbekannt war. Ein Felsbrocken fiel ihm auf, der drei Meter abseits von der Straße stand, und im Sonnenschein funkelte. Er kauerte nieder und lehnte sich gegen den harten Stein, während er überlegte, wie vielen Wanderern der Fels wohl seit den sechs Schöpfungstagen Schutz geboten hatte. Der rissige Stein hatte die Farbe von Honig, und Damiano drückte seine Wange dagegen, erwartete beinahe, daß der Stein warm sein würde. Der Schnee flirrte vor seinen Augen. Er kramte nach der Weinflasche.
»Ich hoffe nur, du hast die Saiten an deiner Laute gelockert«, sagte Raphael, und Damiano erkannte, daß das, was er für flirrenden Schnee gehalten hatte, die ausgebreiteten Schwingen des Engels waren, der reglos auf einem Felsbrocken ganz in der Nähe saß.
Raphaels Gewand war heller als der weiße Boden und völlig schmucklos. Sein Haar schimmerte so farblos wie das Sonnenlicht.
Damianos Lächeln breitete sich langsam aus, weil seine Mundwinkel eingerissen waren.
»Seraph! O Geist des Feuers! Wie gefällt dir der Schnee?«
Macchiata pflügte durch den Schnee.
»Raphael! Du hast uns gefunden!«
»Ja, ja, ich habe euch gefunden«, antwortete Raphael im Tonfall der Begeisterung, der der Hündin vorbehalten war. Er rieb ihr den Kopf an beiden Seiten, daß ihre Ohren flatterten. Damiano spürte eine schwache Anwandlung von Eifersucht.
Raphael wandte sich wieder ihm zu.
»Der Schnee gefällt mir sehr, und die Berge auch. Ich finde, sie haben eine wunderschöne Stimme.«
Damiano starrte Raphael an, bis ihm die Augen brannten. Er war froh, ihn zu sehen, daß ihm nichts einfiel, was er hätte sagen können. Nur Belanglosigkeiten schossen ihm durch den Kopf.
War Raphael unter dem schimmernden Gewand Fleisch und Blut, oder war er nur Antlitz und Schwingen – eine Illusion, dazu geschaffen, daß Damiano ihn besser verstehen konnte? Und wie kam es, da Engel doch körperlos und geschlechtslos waren, daß Raphael Damiano so männlich erschien? Alle Maler gaben ihren Engeln die Gesichter von Frauen.
Hätte Raphael den Eindruck vermittelt, eine Frau zu sein, so hätte Damiano, der von solchen Dingen leicht zu beeinflussen war, das nicht ertragen können. Er hätte sich zweifellos zum Narren gemacht und vielleicht sogar in seinem Herzen gesündigt. Vielleicht, dachte Damiano, war eben das der Grund, warum Raphael nicht als Frau erschien, da der gute Gott keinem Menschen Versuchungen schickte, denen er unmöglich widerstehen konnte.
Das klar gemeißelte Gesicht neigte sich zur Seite, und die Schwingen wirbelten Schnee auf, in dem sich das Licht in tausend Regenbogenfarben brach.
»Warum siehst du mich so an?« fragte Raphael.
Damiano schluckte; er wurde sich bewußt, daß er noch immer den Hals der Weinflasche umklammert hielt.
»Ich hatte vergessen, wie erstaunlich du bist, Raphael. Dich unter offenem Himmel zu sehen, hier im Schnee, ist – ist wunderbar.«
Der Ausdruck im Gesicht des Engels blieb unverändert, als hätte ihn das Kompliment nicht berührt.
»Der blaue Himmel ist sehr schön«, stimmte er zu und blickte hinauf. »Aber das ist er auch bei Regen und bei
Weitere Kostenlose Bücher