Dark Angels' Winter: Die Erfüllung (German Edition)
Tor sieht aus wie ein gähnender, zahnloser Mund. Vielleicht war das Bootshaus einmal weiß gestrichen. Vor vielen Jahren, als Mileys Großvater dort seine Geliebte geküsst hat. Jetzt ist es grau. Ich zögere. Etwas stimmt nicht. Es ist so still.
Wieder blicke ich über meine Schulter. Doch da ist nichts. Nur ein Riss unter meinen Füßen, der sich so schnell vergrößert, dass ich auf den Steg hechte. Trotzdem sickert Wasser durch meine Stiefel.
Fuck.
Ich taste mich weiter und versuche, nicht auf zu morsche Planken zu treten. Schließlich stehe ich vor dem Tor und die Angst in meinem Bauch verdichtet sich so sehr, dass ich mich nicht mehr traue, Mileys Namen zu rufen. Ich ducke mich unter der Toröffnung durch und stehe im Inneren der Hütte. Das Wasser unter mir ist nicht gefroren, dort liegt ein Kahn vertäut, er schaukelt sacht, als ich mich an der Holzwand entlangdrücke. Weiter hinten habe ich eine Tür entdeckt. Plötzlich bin ich mir sicher, dass Miley auf mich wartet. Etwas in mir spürt, dass dort jemand ist. Kein Engel. Niemand, der mir schaden will. Ich steige über Taurollen und zerbrochene Balken und öffne die Tür. Im selben Moment packt mich jemand am Handgelenk und zieht mich an sich. Aber es ist nicht Miley. Es ist Dusk. Seine Augen glühen in der Dunkelheit.
»Prinzessin«, sagt er gepresst.
»Wo ist Miley?« Ich stemme mich mit aller Kraft von ihm weg, doch Dusk hält mich unbarmherzig fest. »Was hast du mit ihm gemacht?«
»Frag lieber, was ich nicht mit ihm gemacht habe. Ich hätte ihn am liebsten umgebracht. Das hätte ich auch tun sollen.«
Mein Herz schlägt hart in meiner Brust. Die Wölfe. Sie haben ihn nicht gehen lassen. Sie haben ihn abgefangen und für Dusk wäre es aus mehreren Gründen einfacher, wenn Miley tot wäre.
»Wie kann man nur so unbedarft sein?« Dusks Griff wird noch härter. Ich sehe den Riss in seiner Lederjacke und das getrocknete Blut. »Ihr könnt überhaupt nicht einschätzen, was die Engel als Nächstes vorhaben«, knurrt er, »und ihr habt nichts Besseres zu tun, als euch hier der Gefahr auszusetzen…ich hätte ihn einfach erledigen sollen. Dann hätten wir eine Sorge weniger. Aber Kalo …«, Dusk bricht ab und schiebt mich nach hinten, bis ich mit den Beinen gegen eine Pritsche stoße.
»Setz dich.«
Ich schüttle den Kopf und versuche wieder, seine Hände abzustreifen.
»Es geht dich nichts an, wen ich treffe, du kannst nicht über mich bestimmen. Über uns.«
»Kalo wird ihn wegbringen«, sagt Dusk und seine Stimme klingt plötzlich gleichgültig.
»Wegbringen?«, wiederhole ich entsetzt.
»Glaubst du im Ernst, Kalo sieht zu, wie ihr Miley den Engeln ausliefert?«
Meine Knie geben nach und ich sinke rückwärts auf die Pritsche. Sie darf ihn nicht wegbringen. Das wird Miley nicht zulassen. Er lässt sich nicht einsperren. Niemals. Schon als wir Kinder waren, hat er sich ihrem Willen widersetzt. Nicht wie seine Schwester Nawal, die nie das Haus verließ. Dusk lässt ein Feuerzeug aufschnappen und entzündet eine Petroleumlampe, die auf einem wackeligen Holztisch steht. Ich sehe mich in dem kleinen Raum um. Es sieht aus, als wäre schon jahrzehntelang niemand mehr hier gewesen. Wahrscheinlich hat das Bootshaus leer gestanden, seit Mileys Großvater hier gewesen war. Es riecht nach brackigem Wasser, Algen und Moder. Dusk bleibt vor mir stehen und ich versuche, in seinem Gesicht zu lesen, was in ihm vorgeht, doch seine Miene ist nur hart und abweisend.
»Ihr müsst aufhören, gegen alle zu arbeiten«, sagt er und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Das mache ich nicht, ich lerne doch alles. Ich …«
Dusk sieht mich weiter streng an und ich fühle mich wie ein kleines Kind, das Rechenschaft ablegen muss.
»Die letzten Tage …«, setze ich noch einmal an, doch dann verstumme ich.
»Es ist gut, wenn du lernst«, sagt Dusk ruhig, »und es ist noch besser, wenn ihr das macht, was ihr immer macht. Die Engel sind mit Samael beschäftigt. Sie warten. Sie warten darauf, dass Indie achtzehn wird. Und sie denken, dass es niemanden gibt, der euch initiieren kann, deswegen halten sie sich ruhig und werden euch nichts tun. Du musst es dir so vorstellen: Sie haben nur ihr Ziel vor Augen. Darauf arbeiten sie hin. Ihr Ziel ist Indies Geburtstag. An diesem Tag werden sie Azrael ihre Seele übergeben und das funktioniert nur ohne Probleme, wenn ihr nicht initiiert seid. Wir müssen sie in Sicherheit wiegen. Niemand weiß von dieser Person, außer dir und
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