Dark Future: Herz aus Eis
verschwommenen Erinnerungen an eine Mutter geblieben, deren Gesicht sie längst vergessen hatte – und schlimmer, an das, was Sam ihr beigebracht hatte, wenn er mal nüchtern genug gewesen war, um sich daran zu erinnern, dass sie da war.
Der Junge, der die Bande anführte, schob sich eine Strähne seines braunen Haars aus dem Gesicht, und obwohl seine verdreckten Hände in Lumpen gehüllt waren, bemerkte Raina, dass der kleine Finger seiner linken Hand fehlte. Er blickte sie an. Sie sah ihm in die braunen Augen, die die Farbe von Whisky hatten, las die pure Verzweiflung in seinem Blick und wusste, dass er sich den Finger selbst abgeschnitten hatte.
»Erfrierungen. Ich musste ihn entweder abhacken oder dabei zusehen, wie die schwarze Fäule die ganze Hand frisst«, erklärte er schulterzuckend und richtete seinen klugen Blick dann wieder auf Wizard. »Also, ist das nun dein Truck oder nicht?«
»Nein. Der Sattelzug gehört ihr.« Mit einem Kopfnicken deutete Wizard auf Raina. »Der schwarze da hinten ist meiner.«
Der Junge sah langsam zu Wizards Truck hinüber, dann wieder zurück und wirkte, als führte er etwas im Schilde. »Netter Truck. Du hast ihn allein gelassen? Glück für dich, dass nichts passiert ist.«
Der Junge wusste etwas, und Raina hatte das Gefühl, dass es, was auch immer es sein mochte, kein gutes Zeichen für Wizards Sattelzug war. So ein Jammer. Es war ein schöner Truck.
»Was bezahlt ihr uns, um ein paar Informationen zu bekommen?«, fragte der Junge und schob beinahe trotzig das Kinn vor, während er seinen Kumpels ein rätselhaftes Handzeichen gab. Sie bewegten sich und bildeten einen Kreis um sie und Wizard.
Raina war mit einem Mal angespannt. Sich gegen einen erwachsenen Mann zu verteidigen war eine Sache, doch die Vorstellung, einem Kind weh zu tun, gefiel ihr überhaupt nicht – auch wenn es ein schmutziges, hinterlistiges Kind war, das genauso groß war wie sie und vermutlich sogar ein bisschen schwerer als sie, und das ihr, wenn es glaubte, dadurch einen Vorteil zu haben, ohne zu zögern ein Messer in den Rücken stoßen würde. Sie hatte nun mal Mitgefühl mit Kindern. Mit Waisenkindern. Mit Kids, die für alles kämpfen mussten.
Ein Grund mehr, das Rennen nach Gladow zu gewinnen, war, dafür zu sorgen, dass Beth niemals eines von diesen Kindern wurde.
Ehe sie etwas sagen konnte, hatte Wizard schon in seine Tasche gegriffen und nahm nun eine Handvoll Interdollar aus dünnem Plastitech heraus. Sie wollte ihn dafür schlagen. Wenn er ihnen Geld gab, würden diese Kids glauben, dass sie tough waren – tough genug, um es mit sibirischen Gun Truckern oder Eispiraten aufnehmen zu können. Vielleicht sogar mit
Janson
-Leuten. Besser war es, ihnen zu erzählen, sie könnten das Geld
gewinnen.
So kamen sie wenigstens nicht auf den völlig überzogenen Gedanken, mit wem sie sich anlegen könnten. Sie streckte den Arm aus und nahm Wizard die Interdollar aus der Hand.
»Wir bezahlen nicht für Informationen – vor allem nicht, wenn es keine Garantie dafür gibt, dass ihr uns etwas erzählen könnt, das wir noch nicht wissen. Wie die Tatsache, dass die
Janson
-Leute gestern Nacht hier gewartet und uns in dem Truck vielleicht sogar eine kleine Überraschung hinterlassen haben.«
Die Augen des Jungen huschten zu Wizards Sattelzug und wieder zurück.
»Ich sag dir was.« Raina beugte sich vor, als würde sie ihm ein Geheimnis anvertrauen. »Wir werden nicht bezahlen, aber wir
spielen
um die Informationen, die ihr habt. Drei-Würfel-Jacey.«
Nachdenklich verengte der Junge seine Augen zu schmalen Schlitzen und grübelte über ihren Vorschlag nach. Sie konnte Wizard neben sich spüren und sie konnte nur hoffen, dass er die Beweggründe für ihr Verhalten verstand. Zumindest hatte er ihr nicht widersprochen, und das war schon mal ein guter Anfang.
»Wie heißt du?«, fragte er den Jungen. »Ich kann nicht gegen einen Mann spielen, dessen Namen ich nicht kenne.«
»Mein Name ist Ben.« Der Junge atmete tief ein und streckte die Brust heraus. »Und du heißt?«
»Wizard. Was hast du als Wetteinsatz zu bieten, Ben – abgesehen von fragwürdigen Informationen?«, fragte er und ahmte mit seiner frechen, gedehnten Sprechweise den Jungen nach.
»Wie wäre es mit
ihrem
Leben?« Der Junge war ganz Macho und Angeber.
Wizard schüttelte den Kopf. »Negativ«, erwiderte er gelassen. »Sie gehört nicht mir. Und sie gehört auch nicht dir, also kein Wetteinsatz.« Sein Blick glitt über
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