Dark Future: Herz aus Feuer
furchtbare Erkenntnis schnürte ihr die Kehle zu.
Steinmauern an drei Seiten und eine Wand aus bruchsicherem Kunststoffglas an der vierten Seite. Die Illusion von Freiheit. Ein flüchtiger Blick auf die Welt jenseits ihrer Zellenmauern, aber keine Chance, sie zu erreichen.
Ihr Magen zog sich zusammen, und ihr wurde übel.
»Ana, was ist los?«, fragte Tristan leise.
»Die Wale. Sie sind gefangen. Gefangene dieses winzigen Lochs.«
Er drehte sich langsam, blickte in alle Richtungen und erkannte, was ihr schon klar war. »Es gibt keine weiteren Löcher im Eis. Wie lange dauert es, bis sie wieder atmen müssen?«
»Maximal zwanzig Minuten. So lange kann ein Belugawal die Luft anhalten, ehe er wieder an die Oberfläche kommen muss. Und hier gibt es für sie keine Nahrung. Sie sind gezwungen, unter dem Eis zu schwimmen, nicht mehr als zehn Minuten in jede Richtung und zehn Minuten zurück. Sie zehren von ihrer Fettschicht. Wenn sie Glück haben, überleben sie bis zur Schneeschmelze. Sie werden monatelang hier sein und immer an diesem Loch Luft holen und wieder abtauchen, bis das Eis irgendwann wieder aufbricht.« Ihr Tonfall war kühl und ruhig, doch innerlich schrie sie und verfluchte das Schicksal dieser Tiere. Ihr Schicksal. Gefangen, ohne die Chance darauf zu entkommen.
Sie wartete darauf, dass er etwas sagte. Was? Dass er sie ausschimpfte? Sie versuchten, Menschen zu retten, ihre Freunde zu retten. Die Zeit schmolz dahin wie Eis in der Sonne, und sie wollte anhalten und über Wale sprechen.
Warum? Was dachte sie sich dabei?
Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass sie bei dem Anblick dieses schlanken, geschwungenen weißen Rückens und bei dem traurigen Gedanken an die schlimme Lage, in der sich die Tiere befanden, innerlich zerbrach.
»Tatiana.« Tristan war ganz nah bei ihr. Zitternd stand sie da und starrte auf das Loch im Eis, das angesichts der weißen Ebene, die sich so weit erstreckte, wie das Auge reichte, klein und isoliert wirkte.
Kein Ausweg. Gefangen. Keine Hoffnung.
Tränen brannten in ihren Augen. Sie konnte es nicht erklären, konnte nicht sagen, warum sie das alles so unendlich traurig machte.
»Tatiana«, wiederholte er, und sie dachte sich, er würde ihr sagen, dass sie zurück zum Truck mussten. Sie mussten los. Natürlich. Sie mussten weiter. Sie hatten nicht viel Zeit und noch einen langen Weg vor sich.
Er hob die Hand und strich mit dem Daumen seiner behandschuhten Hand über ihre Wange. Einen Moment lang verstand sie diese Geste nicht, aber dann wurde es ihr klar, und sie war beschämt und entsetzt. Sie weinte um die Wale.
Und um sich selbst. Um die Jahre, die sie in Gefangenschaft verbracht hatte, so wie die Tiere jetzt gefangen waren.
»Wir müssen weiterfahren, Ana. Hier zu stehen hilft ihnen nicht. Lass uns losfahren.« Er wartete einen Herzschlag lang, und als sie sich nicht rührte, sondern weiterhin auf die sich bewegende Wasseroberfläche in dem eisigen dunklen Wasser starrte und den Blick nicht abwenden konnte, sagte er: »Jetzt.«
Gebieterisch wie immer.
Und er hatte immer recht. Sie mussten weiter, und ihr unerklärlicher Gefühlsausbruch hatte hier keinen Platz.
Sie schluckte, nickte, ging zum Truck und kletterte hinein. Ein kaltes, ungutes Gefühl machte sich in ihrer Brust direkt unterhalb ihrer Rippen breit.
Tristan wandte ihr das Gesicht zu. Sie konnte seine Miene nicht erkennen, und sie war froh darüber.
Mit einem knappen Nicken sah er nach vorn und fuhr los. Tatiana starrte stur geradeaus. Tränen rannen ihr über die Wangen und fielen auf ihre Hände, die sie im Schoß verschränkt hatte. Dumm, doch sie konnte nicht aufhören.
Als sie sich umdrehte, konnte sie wieder eine Wasserfontäne sehen, die aus der Öffnung im Eis schoss – das Ausatmen eines Wals.
Fünfzehn Minuten später hielt Tristan an, schob die Hand in seine Thermokleidung und zog die kleine Box mit dem Cytoplast heraus.
Nein, er spielte nicht mit dem Gedanken …
Aber genau so war es. Er sprang aus dem Truck, grub mit seinem Messer eine kleine Vertiefung ins Eis, stopfte ein bisschen Cytoplast hinein und schloss eine Zündschnur an. Sein Handeln war geschickt und präzise, und er vergeudete keine Sekunde.
Als er sich wieder hinters Lenkrad setzte, trafen sich ihre Blicke. Er grinste und entblößte seine weißen Zähne, von denen die vorderen beiden sich ganz leicht überlappten. Sie hatte noch nie etwas Schöneres gesehen als dieses Lächeln.
Sie beugte sich zu ihm herüber,
Weitere Kostenlose Bücher