Dark Inside (German Edition)
frierend, und wagte sich nicht zu bewegen, selbst als die Schritte schon lange verklungen waren. Ein Teil von ihr war felsenfest davon überzeugt, dass die Männer auf sie warteten. Sie hatte sie nicht im Geringsten täuschen können. In dem Moment, in dem sie aufstand, würden sie über sie herfallen, sie würden sie in Stücke reißen, sie würden ihr Dinge antun, die viel schlimmer waren als alles, wovor ihre Mutter sie immer gewarnt hatte.
Es war der Gestank, der sie schließlich aktiv werden ließ. Sie hielt ihn nicht mehr aus. Vorsichtig rollte sie den Schlafsack zur Seite, wobei sie darauf achtete, nicht noch mehr Urin auf ihrer Kleidung zu verteilen. Während sie auf den Knien lag, lauschte sie in die Nacht. Sie ignorierte das Zirpen der Grillen und das leise Rascheln des Präriegrases und wartete, bis sie sicher war, allein zu sein. Sie musste das Risiko eingehen, sonst würde sie zusammenbrechen und anfangen zu weinen.
Clementine stand auf, ließ den Blick über das Baseballfeld schweifen und vergewisserte sich, dass es leer war. Wieder kamen ihr fast die Tränen, doch sie lenkte sich ab, indem sie ihre Bluse untersuchte. Am liebsten hätte sie sich das Kleidungsstück vom Leib gerissen, doch sie hatte nichts anderes zum Anziehen dabei. Wenn sie die Bluse auszog, war sie fast nackt, und sie glaubte nicht, dass sie stark genug dafür war.
Nein, sie musste etwas anderes zum Anziehen finden. Die Innenstadt lag nur zwei Straßen weiter. Dort gab es mit Sicherheit eine Boutique oder eine Tankstelle, die T-Shirts für Touristen verkaufte. Wenn man in Urin gebadet hatte, durfte man nicht wählerisch sein. Nach einem Blick auf ihren Schlafsack beschloss sie, ihn einfach dazulassen. Er würde nur die Luft im Pick-up verpesten und sie würde sowieso nie wieder darin schlafen.
Den Pick-up hatte sie hinter der abgebrannten Highschool geparkt, auf einer Seitenstraße, wo er zwischen den anderen abgestellten Fahrzeugen nicht auffiel. Fürs Erste würde sie ihn dort lassen, wo er war. Die beiden Männer – und weiß der Himmel, wer noch – waren irgendwo in der Nähe und würden es hören, wenn sie den Motor anließ. Doch wenn sie sich beeilte, konnte sie irgendein Geschäft finden, sich ein paar Kleidungsstücke besorgen und innerhalb einer Stunde wieder bei ihrem Wagen sein und von hier wegfahren. An Schlaf war sowieso nicht mehr zu denken. Hoffentlich hatte sie morgen mehr Glück.
Sie ging langsam über das Baseballfeld und in die Stadt zurück. Die Stille war gut, doch sie zerrte an ihren Nerven. Hier gab es keine Durchgänge zwischen den Häuserblocks, daher blieb sie auf dem Gehsteig und hielt sich dicht an den Hauswänden. Sie machte sich darauf gefasst, beim leisesten Geräusch loszurennen.
Die Hauptstraße hieß Fourth Avenue. Die Straßenbeleuchtung funktionierte nicht, worüber sie heilfroh war. Mit einem einzigen Blick erfasste sie endlose Reihen leerer Parkplätze. Kein einziges Auto war zurückgelassen worden. Die Straße war gesäumt von Geschäften mit großen Schaufensterfronten, einem Eisenwarengeschäft, einer Apotheke, drei Bars, einem Lebensmittelgeschäft und einem Reisebüro, das auch Versicherungen verkaufte. Zwei Motels, die mit Satellitenfernsehen und Klimaanlage warben. Am Ende des Häuserblocks fand sie, wonach sie gesucht hatte: einen kleinen Secondhandladen mit einem Gestell voller gebrauchter Schuhe, das immer noch vor dem Geschäft stand. Die Tür war geschlossen, doch als sie die Klinke hinunterdrückte, öffnete sie sich.
Plötzlich ging über ihrem Kopf ein Glockenton los.
Sie brauchte ihre gesamte Willenskraft, um sich nicht einfach umzudrehen und in die Nacht zu rennen.
Nichts passierte. Der Glockenton hörte einfach auf und das Geräusch der leeren Straße dröhnte in ihren Ohren. Sie konnte nicht einmal mehr die Grillen hören.
Warum hatte sie nicht daran gedacht, die Tür nach einer Glocke abzusuchen? So langsam wurde sie leichtsinnig. Noch vor ein paar Tagen wäre ihr das nicht passiert. Sie hätte eine halbe Stunde gewartet, um sicher zu sein, dass niemand in dem Geschäft war, wäre um das Gebäude herumgeschlichen und hätte nach einer Hintertür Ausschau gehalten. Dann hätte sie sich vergewissert, dass sie wirklich allein war – und schließlich hätte sie die Tür nach einer Glocke oder Bewegungsmeldern abgesucht.
Aber sie war müde. Wenn man müde war, machte man Fehler.
Ein Narr und sein Leben sind bald geschieden.
Nach einem Blick auf die Straße zuckte sie
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