DARK MISSION - Fegefeuer
seine Nähe, genoss die Wärme seines Körpers. Mit jedem Atemzug sog sie Silas’ Moschusgeruch ein.
Sie vergaß, dass sie in das Blut eines anderen Menschen gebadet war. Dass ihr Hals schmerzte, ihre Kehle, und dass irgendwo tief in ihrem Hinterkopf, in einem Kämmerchen, das nur ihr gehörte, ihr Ich saß und schrie.
»Geh und hol mir den Erste-Hilfe-Kasten!«, sagte er über ihren Kopf hinweg. Seine Stimme dröhnte in seiner Brust, beruhigend und greifbar real.
Er sprach mit jemand anderem.
Jessie versteifte sich. Sie löste sich aus seiner warmen, Geborgenheit versprechenden Umarmung und zwang sich, auch ohne seine Hilfe aufrecht stehen zu bleiben. »Mir geht’s gut. Alles in Ordnung.«
»Setz dich!« Er nötigte sie auf die Couch. Obwohl sie dagegen ankämpfte, gaben ihre Gummiknie wieder unter ihr nach. Silas kniete vor ihr, nahm behutsam ihren Kopf und neigte ihn zur Seite. »Himmel, Jessie!«
Sie lachte. Es tat weh. »Wahrscheinlich sieht es schlimmer aus, als es ist.«
»Na prima!« Jessie hörte die Stimme und wusste sie einem Gesichtzuzuordnen, Augenblicke bevor die einprägsamen, halb asiatischen Züge dieses wunderschönen Gesichts mit den tiefblauen Augen in ihr Gesichtsfeld kamen. »Denn du siehst aus wie durch den Wolf gedreht.«
Jessies Lächeln verblasste.
»Ganz ruhig!«, sagte Silas und warf der Frau einen bösen Blick zu. »Naomi ist keine Gefahr.«
Keine Gefahr. Klar doch. Zwei Jäger statt einem in ihrer unmittelbaren Nähe.
Naomis üppig-volle Lippen umspielte ein höflich-sarkastisches Lächeln. »Oh-kay. Du hast sie also gefunden.« Sie tätschelte Silas den Kopf. Es zuckte ihm in den Händen, ein Riss in seiner Rüstung aus Selbstkontrolle. Erbittert drückte er ein Stück Verbandsmull auf Jessies Halswunde, tupfte das Blut ab. »Glückwunsch! Und das andere Zeugs?«
»Die Blutproben sind im Pick-up«, erwiderte Silas und klang gelassen. »Lass mich zuerst Jessie hier versorgen, dann hol ich sie dir!«
»Lass dir ruhig Zeit!«, meinte Naomi leichthin. Sie lehnte sich gegen das Sofa und beäugte aus dieser Position Jessie. Maß sie mit Blicken, die überhaupt nichts freundlich Nettes hatten. »Ich häng lieber hier ein bisschen rum und spiel den Babysitter für euch, als oben in irgendwelche Ärsche zu kriechen. Also: Wer von euch beiden hat es dieses Mal verbockt?«
Jessie schnappte nach Luft und zischte beim Ausatmen einen wortreichen, ziemlich üblen Fluch hervor, als der erste Sprühstoß des Desinfektionsmittels in ihrer Wunde brannte.
»Ganz ruhig.«, wiederholte Silas. Seine Stimme war so ruhig, als hätte er Naomis bissigen Ton nicht gehört. »Bin fast fertig. Ich bin nicht hierher zurückgekommen, Naomi, um mit dir zu streiten.«
»Ach nein? Zu schade!« Naomi hakte ihre Daumen in die Taschen ihrer perfekt sitzenden Jeans. »Du hättest dich schon längst melden müssen. Und ich bin es, die Peterson jetzt am Arsch hat, weil du derjenige mit dem Heldenkomplex bist! Und jetzt bist du dran!«
Jessie schloss die Augen. Sie fühlte sich, als würde von allen Seiten auf sie eingeprügelt. Hin und her gestoßen, als wäre sie eine lebende Flipperkugel.
Sie schlug die Augen wieder auf, als Silas aufstand. »Mach nur so weiter, setz mich unter Druck, und die Pläne können sich ganz schnell ändern!«
Sarkasmus verdunkelte Naomis Blick, mit dem sie immer noch Jessie musterte. »Oh ja, ich weiß, ich weiß! Pläne änderst du gern und schnell, darin bist du richtig gut. Wir verlassen uns sogar darauf. Bist du fertig mit der armen Kleinen?«
»Ich habe einen Namen«, sagte Jessie müde.
Naomi tätschelte auch ihr den Kopf. Einen überanhänglichen Hundewelpen hätte sie wahrscheinlich auf dieselbe Art und Weise getätschelt. »Aber sicher doch.«
Jessie zuckte zusammen.
»Das reicht jetzt!«, knurrte Silas.
»Oh, das ist ja süß!«
Jessies Geduldsfaden riss. »Ach, verdammt, halt doch die Klappe!«
Naomi blinzelte sie an, war ganz Wimperngeklimper und nachsichtiges Lächeln. »Ach was?«
Jessie stemmte sich hoch auf die Füße und begegnete Naomis rasierklingenscharfem Lächeln mit offenem Abscheu. »Ich werde nicht hier sitzen und mir deine Gehässigkeiten gefallen lassen, nur weil du heute Morgen mit dem falschen Fuß aufgestanden bist!«, sagte sie rundheraus. »Behandele mich gefälligst nicht wie ein Schoßhündchen, klar?!«
Naomi in ihrem kurzen, leuchtend roten Jäckchen hob die zweifach gepiercte Augenbraue und verschränkte die Arme vor der Brust.
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