Dark Village - Niemand ist ohne Schuld
diesmal war Benedicte vorbereitet.
„Und ich weiß auch, wer das mit Trine gemacht hat“, sagte sie seltsam distanziert und gefühllos.
Vilde blieb stehen und wandte sich um.
„Was gemacht hat?“
„Was glaubst du denn?“ Benedicte sah sie mit Verachtung im Blick an. „ Das eben.“
Vildes Kinn sackte nach vorn. „Was meinst du? Wovon sprichst du?!“
„Ich weiß, wer es war. Wer es getan hat.“ Benedicte setzte die Sonnenbrille wieder auf und schob sie mit dem kleinen Finger zurecht. „Ich weiß, wer Trine umgebracht hat.“
5
Er fuhr zum Haus am Stor-Haugen. Es war früher Abend, er hatte es nicht eher geschafft. Mit der Tasche in der Hand stieg er die Vordertreppe hinauf und klingelte. Es dauerte nicht lange, da öffnete Werners Frau Sigrid die Tür.
„Hallo“, sagte er. „Werner hat mich angerufen.“
„Ja.“ Sigrid trat einen Schritt zur Seite. „Ich weiß. Kommen Sie rein.“
Er betrat das Haus. „Sie waren verreist?“
„Ja.“ Sie lächelte angespannt und blieb ihm gegenüber im Windfang stehen. Ihre Augen waren kalt und wachsam.
Er fühlte sich wie ein Schuljunge im Büro des Rektors. Sie mag mich nicht, dachte er.
„Ich war bei meiner Schwester“, sagte sie, dann drehte sie sich um und ging vor ihm den Flur entlang. Es war dunkel und roch feucht und muffig. Er hatte das Gefühl, sich unter die Erde zu begeben, hinein in Dunkelheit und Vergessen. „Es geht ihr wieder besser.“
„Hm? Eline?“
„Meiner Schwester. Sie war krank.“
„Ach so.“
Sigrid lächelte ihn kühl an.
Sie mag mich nicht. „ Ist Werner da?“, fragte er.
„Er ist im Bad, einen Moment bitte. Warten Sie hier.“
Dann ging sie durch eine Tür auf der linken Seite. Wahrscheinlich in die Küche, dachte er. Rechts von ihm führten schm ale Stufen nach oben.
Da hörte er die Toilettenspülung, es rauschte in den Rohren. Kurz darauf öffnete sich oben eine Tür und das Geräusch von Schritten erklang.
Er schaute die Treppe hinauf, sah aber niemanden.
„Ich bin da“, sagte Wolfman laut. „Ich bin gekommen, um mich um Eline zu kümmern.“
6
Sie trafen sich acht verwirrende Stunden nach Benedictes Verkündung: „Ich weiß, wer es getan hat. Ich weiß, wer Trine umgebracht hat.“
Sie saßen zusammen – Benedicte, Vilde und Nora –, um zu reden. Es fühlte sich verdammt seltsam an, denn sie hatten bisher noch gar nicht darüber gesprochen. Mit keinem Wort hatten sie die Frage „Wer hat das getan?“ erwähnt.
In der Schule, zu Hause, in den Läden und der Bibliothek, auf dem Sportplatz und im ganzen Ort gab es kein anderes Thema. Alle Bewohner Dypdals steckten die Köpfe zusammen, warfen misstrauische Blicke um sich und flüsterten: Glaubst du, sie wurde vergewaltigt? Hast du was gehört? Wer kann das nur getan haben? Glaubst du, es ist einer von hier? Einer, den wir kennen?
Und die Journalisten zogen durch die Gegend und sammelten tränenerstickte Kommentare von „engen Freunden“, meist solchen, die Trine nicht mal mit dem Arsch angeguckt hätte.
Nur Benedicte, Vilde und Nora brachten es nicht fertig, darüber zu sprechen. Es fühlte sich verkehrt an, auf ekelhafte Weise grapschig und sensationslüstern. Trine war weg, und das Einzige, was sich die Leute fragten, war, wer es getan hatte.
Warum sprach niemand über die Lücke, die sie hinterlassen hatte? Die Leerstelle, die ihnen entgegenschrie, ihr verlassener Tisch im Klassenraum? Waren sie die Einzigen, die verzweifelt nach einer Möglichkeit suchten, die Normalität wiederherzustellen, die sich fragten, wie es weitergehen würde, wie man jetzt eine Art normales Leben führen sollte? Es kam ihnen vor, als wären die schönen, tröstenden Worte zu Hause und in der Schule nur Floskeln, dass niemand außer ihnen drei – und Trines Familie natürlich – weiterblickte als bis zu den Schlagzeilen und dem Tod und der Sensation.
Aber auch sie hatten sich Gedanken über Trines Tod gemacht, jede für sich. Sie hatten überlegt, geweint und es in den Gesichtern der anderen gesehen. Sie hatten es einfach nur nicht ausgesprochen: Wer hat es getan? Wer hat Trine umgebracht? Wenn es nun jemand ist, den wir kennen …!
Die Angst war wie die Trauer – lähmend, schwer und leer. Ein Vakuum. Alle alltäglichen Bezugspunkte waren verschwunden, plötzlich wurde das Leben von anderen Dingen beherrscht.
Sie befanden sich im Auge des Sturms, wo alles stillstand und das Chaos rundherum merkwürdig abstoßend und gleichzeitig beinahe lächerlich
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