Darkyn: Dunkle Erinnerung (German Edition)
vorbei. Sie steckte jetzt in einer vollständigen Ritterrüstung und trug genug Waffen, um damit ein gesamtes Sondereinsatzkommando auszustatten.
»Ich bin … RoboCop?« Vorsichtig zog sie eine der kürzeren Klingen aus der Scheide, die an ihrer linken Hüfte befestigt war, und betrachtete sie genauer. Sie sah ziemlich echt aus, und als Sam eine Fingerspitze dagegenpresste, schnitt sie wie eine Rasierklinge in ihre Haut. »Autsch.« Sie leckte das Blut weg, und es schmeckte wie Blut. »Mittelalterliche Huren, Schlangenmänner, eine selbst anziehende Rüstung und Vampire. Ich bin endgültig durchgeknallt.«
Du träumst das Bordell, die Huren und die Rüstung. Alles andere war real.
Sie drehte sich um. »Wo bist du?«
Im Kerker.
Sam sah eine Ratte unter einer Chaiselongue hervorlugen. »Hast du einen Kammerjäger da unten?«
Ihr gut angezogener Zwilling kam mit zwei Weinkelchen zurück und reichte ihr einen. Sam betrachtete den Inhalt und sah, dass kleine Holzstücke und etwas Breiiges daraufschwammen. »Haben Sie ein Sieb?«
»Wie bitte?«
»Vergessen Sie’s.« Es war Traumwein, warum sollte sie sich also Sorgen machen? Sam trank einen Schluck und musste würgen, als die dicke, ekelhaft süße Flüssigkeit durch ihre Kehle rann. »Schön, äh, stückig.«
Ihr Zwilling nahm selbst einen großen Schluck. »Es belebt die Sinne.«
»Wenn es nicht vorher den Schmelz von den Zähnen ätzt.« Sam stellte ihren Kelch auf den kleinen Tisch. »Was passiert jetzt?«
»Ihr nehmt das Schloss oder den Kerker.«
Sam runzelte die Stirn. »Und was mache ich dann damit?«
»Ihr nehmt, was Ihr Euch wünscht«, sagte ihr Zwilling übertrieben geduldig. »Das Schloss in der Luft« – sie deutete auf ein schmales Fenster – »oder den Kerker unten.«
Sam spürte Misstrauen in sich aufsteigen. »Muss ich noch mal gegen einen Schlangenmann kämpfen?«
Der Mund der anderen Sam verzog sich über perlweißen Zähnen. »Ihr könnt das eine nicht ohne das andere haben.«
Die Steine auf dem Boden unter ihren Füßen fingen an zu knacken wie schmelzendes Eis. Sam versuchte zurückzutreten, aber die Steine unter ihren Fußsohlen fielen nach unten und hinterließen ein schwarzes Loch.
»Wie es scheint«, sagte ihr Zwilling und flog zum Fensterbrett, auf das sie sich setzte, »möchte er es für Euch entscheiden.«
Alle Steine lösten sich, fielen in das schwarze Loch darunter und rissen Sam mit sich.
Sam fiel. Sie tastete nach einem Halt, nach irgendetwas, nach dem sie greifen konnte, aber da waren nur Mauern. Unter sich sah sie kein Licht, keinen Boden, nur Dunkelheit. Es kam ihr vor, als fiele sie für Stunden. Sie fiel, bis es ihr egal war, wie hart sie landen würde oder ob es sie umbrachte, wenn sie nur endlich nicht mehr fallen würde.
Der lange Fall endete erst, als jemand nach ihr griff und sie von hinten aus der Dunkelheit riss. Hände legten sich auf ihre Schultern, hielten sie aufrecht.
»Weintrauben haben hier keine Saison mehr, Samantha«, sagte Lucan an ihrem Ohr. »Soll ich ein paar Granatäpfel bestellen?«
Sie war immer noch von völliger Dunkelheit umgeben, aber so erleichtert darüber, nicht mehr zu fallen, dass es ihr egal war, dass er sie gerade zu Tode erschreckt hatte. »Ich habe keinen Hunger.«
»Doch, das hast du.«
Sam zog das Kinn ein und drehte ein wenig den Kopf, sah, dass die linke Hand auf ihrer Schulter keinen Samthandschuh trug. Es war nicht einmal eine menschliche Hand, denn an den Spitzen ragten zehn Zentimeter lange schwarze Krallen statt Fingernägeln heraus. Dann sah sie die andere Hand an, die gebräunt und sehr gepflegt war. Auf dem Ringfinger dieser Hand saß ein altmodischer Siegelring mit dem verschnörkelten Buchstaben »L«.
»Warum bin ich hier?« Sie sah, dass die menschlichen Finger fester zugriffen. »Ist das hier der Kerker?«
»Du kannst die Freuden der Welt nicht genießen ohne den Schrecken, Samantha.« Die Monster/Mensch-Hände drehten sie um. »Du bist Polizistin. Das solltest du wissen.«
Warum sollte ich das wissen? Sie hatte in ihrem Leben nur wenig Freude erlebt. Aber falls Lucan einen Großteil davon repräsentierte – was er, wenn sie es recht bedachte, vermutlich tat –, was sagte das dann über sie?
Ihre linke Seite war jetzt gegen seine Brust gepresst, und in ein paar Sekunden würde sie sein Gesicht sehen. Irgendwie wusste sie, dass sie, wenn sie ihn ansah – wenn sie auch nur einen winzigen Blick in sein Gesicht warf –, ihm gehören würde. Seine
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