Darling, fesselst du schon mal die Kinder?: Das heimliche Tagebuch der Edna Fry
schwere Doppelkinn auf die Brüste.
»Na ja, es gibt noch das Zimmer meines Manns«, sagte sie und sah mir über die Schulter. »Das dürfte frei bleiben … heute Nacht.«
Ich folgte ihrem Blick durchs Fenster auf den Vollmond.
»Wir schlafen in verschiedenen Zimmern, müssen Sie wissen«, fuhr sie fort. »Seit … na ja, Sie wissen ja, wie das ist.«
Während sie sprach, spürte ich einen kalten, klammen Druck. Es war Stephens Hand. Ich gab ihm einenZehnpfundschein und wandte mich wieder der Wirtin zu.
»Und das Zimmer ist also frei, ja?«, fragte ich zögernd.
»O ja«, sagte sie. »O ja, ich bin sicher, Sie werden sich darin wohl fühlen. Er ist den Rest der Nacht fort … auf der Jagd.«
»Tatsächlich?« Ich runzelte die Stirn. »In so einer Nacht? Was jagt er denn?«
Die Frau klaubte Kinn, Brüste und Arme wieder vom Tresen und richtete sich auf.
»Ach, alles Mögliche, wissen Sie. Alles, was sich halt … ins Freie wagt.«
Das Zimmer war entzückend, hatte ein eigenes Bad und ein Radio am Bett. Aber das Bemerkenswerteste waren die Wände. Sie waren mit ganzen Reihen von Tierköpfen bedeckt, wahrscheinlich den Trophäen ihres Manns – Antilopen, Hirschen, Eseln, Kühen, allem Möglichen.
Ich weiß nicht, ob es am örtlichen Bier oder der 85-stündigen Fahrt lag, aber plötzlich überkam mich große Müdigkeit. Ich ließ mich auf die Hundefelldecke fallen und glupschte trübe zum euphorisch tänzelnden Stephen hoch. Er drehte sich. Ich schloss die Augen. Öffnete sie wieder. Er drehte sich immer noch. Ich stellte den Sender mit den Hits der Achtziger aus, und er blieb stehen. Er wirkte so einsam und verlassen. Aber auf ihn hatte das Bier den gegenteiligen Effekt gehabt, er war voll in Partylaune. Hatte sich volllaufen lassen und war gegen Leerlauf.
Plötzlich pochte es an der Tür. Ich hoffte, es war nicht der Wirt, der seine Jagdpartie früher beendet hatte. Aber nein, es waren sein Sohn mit einer Narrenkappe und Tatanya mit Krone und Feenflügeln.
»Zeit zum Spielen!«, grölte Puck und schwang einen langen Stock mit Glöckchen dran.
Ach du meine Güte, dachte ich. Das war doch nicht etwa
so ein
Etablissement? Da hätte es draußen doch ein Schild geben müssen. Vielleicht gab es ja auch eins. Zum Glück war es aber nicht
so ein
Etablissement. Anscheinend waren wir nur zufällig zum Sommernachtskarneval des Dorfes gekommen – dem Jungen zufolge eine Nacht der Orgien, Ausschweifungen und Lustbarkeiten. Stephen sah mich flehend an, als wären Orgie, Ausschweifung und Lustbarkeit seine zweiten Vornamen, was meines Wissens nicht der Fall ist.
»Ab mit dir«, sagte ich mit einer müden Geste. Stephen grinste, pflanzte mir einen feuchten Kuss auf die Stirn und huschte zur Tür.
»Sie brauchen ein Kostüm«, hörte ich den Jungen sagen, als mir die Lider herabsanken.
»Ja, Sie brauchen ein Kostüm«, äffte die Stimme seiner Schwester nach.
Ich hörte Füßescharren und Gefummel, dann fiel die Tür ins Schloss, und ich schlief ein.
22. Juni, Mittwoch
Wachte mit rasenden Kopfschmerzen auf und erinnerte mich erst nach einigen Augenblicken, wo ich war. Es warnoch dunkel. Ich tastete nach Stephens Bettseite, aber die war leer. Ich knipste die Nachttischlampe an und sah auf die Uhr. Halb drei. Wo war er bloß abgeblieben? Vorsichtig stand ich auf und schlüpfte in den Mantel. Ich stolperte in den leeren Pub hinab und in die Nacht hinaus. Bis auf einen verlassenen Ford Viagra war nichts zu sehen. Dann hörte ich etwas. Es klang wie Gesang. Oder Sprechchöre. Und es schien oben von der Anhöhe hinter dem Pub zu kommen. Ich rückte den Hut zurecht, raffte die Rockschöße und schritt hügelan. Als ich mich der Kuppe näherte, schwoll der Lärm an – eine Art rhythmisches Klageträllern –, und der Nachthimmel überzog sich mit einem orangeroten Glühen.
Als ich endlich die Spitze erreicht hatte, bot sich mir ein verblüffender Anblick. Um ein riesiges Freudenfeuer tanzte eine Gesellschaft der aberwitzigsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe. Alle wirbelten ums Feuer, fuhrwerkten mit den Armen herum und johlten anscheinend mystische Beschwörungen. Ich musste in irgendein heidnisches Ritual hineingeraten sein. Ich kauerte mich hinter einen Busch, starrte hinüber und versuchte, mir einen Reim auf die schaurige Szene zu machen. Dann fiel es mir wieder ein. Natürlich. Wie dumm von mir. Das musste der Sommernachtskarneval sein, zu dem Stephen mitgeschleppt worden war. Aber wo war er dann?
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