Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
dessen selbst erklärtem Ebenbild. Auch wenn er die Entstehung des Menschen in seinem Buch nur in einem Satz erwähnt, begreifen die Vertreter der alten Ordnung sofort,
worauf er es abgesehen hat: die Sonderstellung der eigenen Spezies. Keine wissenschaftliche Erkenntnis hat sich jemals so direkt gegen religiöses Dogma gewandt. Wenn Darwin recht hat, gibt es kein Leben im Jenseits, keine Seele, keine Hoffnung - außer der, die wir uns selber schaffen. Blinder Zufall, unpersönliche Selektion, die Welt verliert ein Stück ihrer Nestwärme. Mit seiner Theorie zieht er die Menschheit in den Sumpf des niederen Lebens und mitten ins Kampfgebiet einer brutalen Natur, nicht auserwählter als Quallen, Finken oder Affen. Er spricht nicht von Gott und nicht von den Menschen, doch zwischen den Zeilen schwingen sie mit wie der fortlaufende Unterton seines langen Arguments: Alles, was für die anderen Lebewesen gilt, das gilt auch für uns.
Indem Darwin Naturgeschichte wie keiner vor ihm als das begreift, was sie ist, nämlich als Geschichte der Natur von ihren ersten Anfängen an, schreibt er das Buch aller Bücher neu. Wie noch nie zuvor bekommen die Bibel und mit ihr alle anderen Schöpfungsmythen Konkurrenz durch eine epische Erzählung aus der Werkstatt der Wissenschaft. Ein organischer Vorgang, geboren im Schlamm, schafft Ordnung aus Chaos, Intelligenz aus Indifferenz und gibt der Materie eine Stimme. Die Theorie der Evolution ist selbst eines ihrer Produkte. Der Mensch erfüllt das Orakel: »Erkenne dich selbst!«
Am 22. November 1859 trennt sich der Denker endlich von seinen Gedanken. An diesem Tag im späten Herbst des Jahres und im frühen seines Lebens fliegen sie davon und verbreiten sich in der Welt. Lange hat er sie im Gewahrsam seines Geistes ausgebrütet. Nun entlässt er sie, angetrieben von Konkurrenz, in die Freiheit, ins Spielfeld der kulturellen Evolution. Dort muss sich die neue Idee im Kampf gegen andere behaupten. Zunächst gelangt sie in die Hände und Gehirne der ersten Käufer und Leser. Die erste Auflage von 1250 Exemplaren ist nach wenigen Tagen vergriffen. Schon in der zweiten, die 1860 erscheint, nimmt Darwin eine kleine, aber wichtige Änderung im letzten Absatz des Buches vor. Statt von vielfältigen Kräften, die nur wenigen oder nur einer einzigen Form eingehaucht worden sind, spricht er jetzt davon, dass der Schöpfer den Keim allen Lebens, das uns umgibt, nur wenigen oder gar nur einer einzigen Form eingehaucht hat.
Seine Korrektur, die Gott als letzten Grund der Dinge zulässt, ändert jedoch nichts an der Rezeption seines Werkes. Der Ursprung des
Lebens interessiert die Leute viel weniger als sein Höhepunkt. Statt auf seine Göttin »Natürliche Auslese« stürzt sich alle Welt auf die heikelste Konsequenz seiner Theorie. Selten ist das, was nur zwischen den Zeilen steht, so heftig erörtert worden. Bis heute fassen die meisten Menschen, die von Darwin gehört haben, seine Gedanken in dem einen Satz zusammen: »Der Mensch stammt vom Affen ab.«
Aber nicht Darwin bringt den Stein ins Rollen, sondern der Mann, der als seine »Bulldogge« berühmt wird: Der brillante Thomas Henry Huxley beweist Gespür für treffsichere Provokation. Der Mensch als »mutierter Affe« erregt die Gemüter mehr als die Variation einer Zuchttaube oder der Schädelknochen eines ausgestorbenen Vogels. Huxley prägt den Begriff »Darwinismus« und verwendet ihn wie einen Schlachtruf im Kampf gegen den Klerus. Er nimmt Darwins Theorie zum Anlass, sein großes Ziel zu erreichen: der Kirche die Wissenschaft zu entreißen.
Noch sind die beiden nicht zu trennen. Fast alle großen englischen Forscher sind gleichzeitig Geistliche. Wissenschaft als Beruf mit Vertrag und Gehalt ist die Ausnahme. Huxley gehört zu den Ersten, die mit einer rein wissenschaftlichen Professur (an der königlichen Montanschule in London) den Typus des angestellten Universitätsforschers in England verkörpern, wie er heute gang und gäbe ist. Darwin, der Privatgelehrte mit väterlicher Apanage und Erbschaft, wird zum Symbol eines anderen Charakters im Ringen um die Wahrheit: Als graue Eminenz hält er sich im Hintergrund und schickt andere ins Getümmel.
Darwin kümmert sich weniger um die religiöse Kritik als um die Meinung seiner Kollegen, was sich natürlich nicht trennen lässt. Der alte Henslow zeigt sich milde, akzeptiert das Werk seines ehemaligen Schülers aber nur als Hypothese, nicht als Theorie und will öffentlich nicht als
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