Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
für die Anamnese seinen Zustand zusammen: Alter 56 - 57. Seit 25 Jahren extreme, krampfartige tägliche und nächtliche Blähungen. Gelegentliches Erbrechen, zweimal monatelang anhaltend. Dem Erbrechen gehen Schüttelfrost, hysterisches Weinen, Sterbeempfindungen oder halbe Ohmachten voraus, ferner reichlicher, sehr blasser Urin. Inzwischen vor jedem Erbrechen und jedem Abgang von Blähungen Ohrensausen, Schwindel, Sehstörungen und schwarze Punkte vor den Augen. Frische Luft ermüdet mich, besonders riskant, führt die Kopfsymptome herbei.
Darwin sieht sich einmal mehr gezwungen, sich zu verstecken, seit ihn eiternde Ekzeme entstellen. Sein Gesicht, hager, abgespannt und eingefallen, verbirgt er nun vollends im Gestrüpp seines Methusalembartes. So entsteht das Bild, mit dem die Welt bis heute die Idee der
Evolution verbindet. Karikaturen zeigen ihn mit der Physiognomie eines Neandertalers als gebeugten Affen.
Wie jeder Wissenschaftler und Künstler muss er damit umzugehen lernen, dass sein Werk nun ein Eigenleben führt. Er sammelt alles, was ihm über sich und seine Theorie in die Hände fällt. Am Ende hat er neben 347 Besprechungen und 1571 allgemeinen Artikeln zwei dicke Ordner mit Zeitungsartikeln und 336 Schriftstücke zusammen, die nicht in die Ordner passen.
Wer allerdings nach Veröffentlichung der »Origins« einen Aufstand von Kirche und organisierter Religion erwartet, sieht sich getäuscht. Das Evangelium des Teufels , wie Darwin sein Werk einmal nennt, lässt das Bollwerk erbeben. Aber es bleibt weit davon entfernt, es zum Einsturz zu bringen. Religion überlebt Revolution. Da kann er noch so richtig liegen, da können wie vom Herrgott persönlich geschickt immer neue Belege auftauchen, die seine Thesen untermauern. Schon 1856 sind im Neandertal bei Düsseldorf die Schädeldecke und weitere Knochen eines Urmenschen gefunden worden, der mit seiner fliehenden Stirn genau in die Lücke zwischen Gorilla und Mensch zu passen scheint. Kurz darauf tauchen neben den Knochen ausgestorbener Hyänen Steinwerkzeuge auf. Der moderne Mensch ist offenbar viel älter, als es die Bibel zulässt.
Wenig später wird im deutschen Solnhofen in einem Steinbruch für Lithografieplatten ein fossiler Vogel entdeckt, der eine Zwischenstufe auf dem Weg von Reptilien zu Vögeln zu markieren scheint. Richard Owen kauft die Steinplatte für das Britische Museum und tauft den Urvogel »Archaeopteryx«. Das ausgestorbene Tier, so alt wie die Dinosaurier, besitzt nicht nur, wie Darwin vorhergesagt hat, getrennte Flügelfinger, sondern auch Zähne im Schnabel. Noch zu seinen Lebzeiten tauchen immer weitere »missing links« auf, wie Lyell die fehlenden Glieder in Darwins Beweiskette tauft, und schließen die Lücken.
Die Zahl der Belege wird so erdrückend, dass die Veränderbarkeit der Arten in der Fachwelt innerhalb eines Jahrzehnts weitgehend akzeptiert wird. Schon 1865 wird Evolution in Cambridge Prüfungsgegenstand. Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler nimmt die Bibeltreuen noch ernst, die das Alter der Erde mit sechstausend Jahren angeben. Schon damals macht sich in gebildeten klerikalen Kreisen die Auffassung breit, die bei fundamentalistischen Christen bis heute
nicht angekommen ist: dass die Bibel nicht wörtlich, sondern sinnbildlich zu verstehen sei. Die natürliche Auslese jedoch, der Kern von Darwins Theorie, bleibt selbst unter wohlmeinenden Fachleuten umstritten. In ihrer kalten Blindheit läuft sie dem Glauben an einen allmächtigen Gott zuwider, wie metaphorisch die Heilige Schrift auch immer gelesen werden mag.
Zwischen dem Glauben an Gott und ihrer Unterstützung der Evolutionstheorie hin- und hergerissen, versuchen helle Köpfe, eine Brücke zwischen den unvereinbaren Extremen zu finden. Der amerikanische Botaniker Asa Gray, einer der Ersten, die Darwin eingeweiht hat, und einer seiner frühesten Unterstützer, schlägt zur Rettung der natürlichen Auslese einen Kompromiss vor. Gott soll der Selektion, die er ebenfalls erfunden hat, Vorschläge machen und so seinen Plan verwirklichen. Darwin steckt noch in der Phase des Theismus und nimmt den Vorschlag begeistert auf. Für theologisch Sensible wie Gray gibt er sogar das Prinzip des Zufalls auf, um seine wichtigste Idee zu retten: ohne Selektion keine Evolution.
Grays Gedanke, dass die »Variation an bestimmten vorteilhaften Routen entlanggeleitet wurde« statt unendlich viele Verlierer ins Rennen zu schicken, vergleichbar mit den Ideen von Simon Conway
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