Darwin - Das Abenteuer Des Lebens
müssen ungleich mehr hier einfach herumgelegen haben.«
Tucutucos bekomme ich erst zu Gesicht, als ich mir Zugang zum Nationalmuseum für Naturgeschichte in Montevideo verschaffe. Das heruntergekommene Gebäude ist aus Finanznot für den Publikumsverkehr geschlossen, die Saurierskelette verstauben, Hunderte von Holzkisten voller Sammelstücke stapeln sich mannshoch. Am Eingang wacht eine junge Uniformierte streng darüber, dass niemand unbefugt passiert. »Und wenn ich Ihnen sage, dass ich auf Darwins Spuren unterwegs bin?«, halte ich ihr entgegen. Da erhebt sie sich, stellt sich vor, reicht mir die Hand, verbeugt sich, als sei ich der Erwähnte selber, und geleitet mich in die Forschungsabteilung.
Der Nagetierexperte, ein spitzgesichtiger junger Zoologe mit scharfem Kinn- und Backenbart, öffnet einen Stahlschrank und zieht eine breite Holzschublade heraus. Da sehe ich sie aufgereiht vor mir liegen: etwa zwanzig Tierkörper, braunes Fell, mittellanger Schwanz, kurze Beine, wurstförmig an ihre unterirdischen Höhlen angepasst - ausgestopft und mit weißen Papierschildchen am Hinterbein. Darwin hat die Nager sogar mit nach Hause genommen und mit ihnen gespielt. Von denen, die ich lebend hielt, wurden etliche schon am ersten Tag recht zahm und versuchten nicht zu beißen oder wegzulaufen.
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Südatlantik
An Bord der Aliança Pampas · Sturm vor Puerto Deseado · Der Untergang der Swift · Versorgung an Bord · Planet des Wassers · Die Entstehung des Lebens · Das Prinzip der Großen Zahl
Sie haben mich gewarnt. Die Prüfung, haben sie beim Ablegen in Montevideo gesagt, beginne erst auf offener See, wenn die Aliança Pampas den ruhigen Río de la Plata hinter sich gelassen habe. Bis hier, kurz vor Puerto Deseado in Patagonien, ist unsere Fahrt im Kielwasser der Beagle glatt und ruhig verlaufen. Nun aber tobt der Orkan, Stärke zehn bis elf, der uns zum Ankern vor der südargentinischen Küste und damit Yuriy Kovalchuk, den Dritten Offizier, in die bislang schwerste Bewährungsprobe seiner seemännischen Laufbahn gezwungen hat. Jetzt bin ich an der Reihe: Seefest wie Yuriy oder seekrank wie Darwin?
Man wird nicht seekrank, hat der Erste Offizier versichert, man ist seekrank. Oder nicht. So wie man Alkoholiker bleibt, auch wenn man nicht trinkt. Kommt das Schiff ins Rollen, bricht die Krankheit aus. Bricht sie nicht aus, ist man seetauglich. Vor Anker macht sich das Rollen noch deutlicher bemerkbar als auf Fahrt. Die starke Strömung richtet das Schiff in eine Richtung aus, die andere Richtung schickt Wind und Wellen. Schwer wirft sich das Containerschiff hin und her. Gleichzeitig erhebt es sich vom Bug her und taucht tief wieder ein.
Der Kalender in meiner Kabine schaukelt nun in langen statt in kleinen Schwüngen. Zwischendurch löst er sich von der Wand und klatscht wieder auf sie zurück. Stehen oder gehen ohne festen Griff unmöglich. Sitzen nur mit Gegensteuern, Toilette inklusive. Die Eingeweide melden sich. Mein Magen hat mir unmissverständlich erklärt, dass er terrestrischen Ursprungs ist und die See nicht mag. Ihn flau zu nennen verharmlost
seinen Zustand. Aber er trägt es mit Fassung. Kein Brechreiz. So weit wollen wir Darwin nun doch nicht folgen.
Als die Sonne unter den schwarzen Wolken am Horizont versinkt, wandern als Abbilder meiner Fenster zwei leuchtend rote Flecken in Kreisen über die Kabinenwand und über mein Bett. An Schlafen ist nicht zu denken. Sobald ich entspanne, wirft es mich von der Matratze. Jetzt hätte ich gern eine Hängematte wie Darwin auf der Beagle. Ihm hat sie wenig genutzt. Endlich empfinde ich entschieden viel weniger Angst vor der Seekrankheit, obwohl ich während zwei dieser Tage am Ende meiner »Fahnenstange« angelangt war . Schließlich finde ich die Lösung. Bäuchlings die Spinne machen, alle viere von mir gestreckt. Eine Nacht aus Momenten des Schlafs. Immerhin.
Am Morgen, als die Lage sich zunächst wieder entspannt hat, bringt ein Boot den Lotsen an Bord. Wie in alten Tagen klettert er über eine Strickleiter die Schiffswand hoch. Alle Offiziere haben auf der Brücke Aufstellung bezogen und begrüßen den bärtigen Argentinier. Nun steht Kapitän Khokhlov vor seiner Prüfung. Er kann seine Nervosität kaum hinter Sonnenbrille und Schnauzbart verbergen. Seine Blicke wandern immer wieder vom Lotsen zur Hafeneinfahrt und wieder zurück. Er weiß, dass die Passage es im wörtlichen Sinne in sich hat. Das haben schon andere vor ihm erfahren müssen.
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