Das 1. Buch Des Blutes - 1
schaute zu den eisträgen Wassern der Seine hinüber. Dann fiel ihm eine Bewegung ins Auge. Es drehte ihm den Magen um.
Der Fremde sah voll zum Fenster herauf, mit einem unsäglich verstörten Blick. Die sonst so tadellose Kleidung war in Unordnung geraten, und der Ausdruck in seinem Gesicht war tiefste, äußerste Verzweiflung, so bemitleidenswert, daß sie fast tragisch anmutete. Oder eher wie eine Darbietung des Tragischen: die Qual eines Schauspielers.
Und eben als Lewis auf ihn hinunterstarrte, hob der Fremde seine Arme zum Fenster empor, in einer Geste, die um Vergebung oder Verständnis, oder um beides zu bitten schien.
Lewis wich vor dem suggestiven Sog zurück. Das war nicht zu verkraften, absolut nicht. Im nächsten Augenblick ging der Fremde bereits über den Hof davon. Das affektierte Getrippel war zu schlingerndem, weit ausgreifendem Springen entartet. Während die schlecht gekleidete Riesengestalt von der Bildfläche verschwand, stieß Lewis ein langgezogenes, leises Stöhnen des Erkennens aus.
»Lewis?«
Das war nicht der Gang eines Mannes, dieses stolzierende Geschlinger, dieses sich wiegende Gehopse. So bewegte sich eine Bestie, auf ihren Hinterbeinen, der man den aufrechten Gang beigebracht hatte, und der jetzt, ohne ihren Herrn, die andressierte Technik abhanden kam.
Es war ein Affe.
O Gott, o Gott, es war ein Affe.
»Ich muß Phillipe Laborteaux sprechen.«
»Tut mir leid, Monsieur, aber die Besuchszeiten…«
»Aber in dem Fall geht’s um Leben und Tod, Wachtmeister.«
»Das sagt sich leicht, Monsieur.«
Lewis riskierte eine Lüge. »Seine Schwester liegt im Sterben. Bitte, haben Sie doch Verständnis.«
»Hm… na ja…«
Ein leichter Zweifel. Lewis stieß etwas weiter nach. »Nur wenige Minuten; um ein paar Dinge zu regeln.«
»Hat das nicht Zeit bis morgen?«
»Sie überlebt die nächste Nacht nicht mehr.«
Es war Lewis zuwider, so über Catherine zu reden, selbst wenn es nur dieser Täuschung wegen geschah, aber es war notwendig; er mußte Phillipe sprechen. Wenn seine Theorie stimmte, dann könnte sich die Geschichte noch vor morgen früh wiederholt haben.
Man hatte Phillipe aus einem Tranquilizer-Schlaf geweckt. Tiefe Schatten lagen um seine Augen.
»Was willst du?«
Lewis machte gar nicht erst den Versuch, seine Lüge weiter aufrechtzuerhalten. Phillipe stand im Augenblick unter Drogen und war wahrscheinlich kaum imstande, einen klaren Gedanken zu fassen. Am besten, er konfrontierte ihn mit der Wahrheit und schaute, was dabei herauskam.
»Du hast dir einen Affen gehalten, stimmt’s?«
Ein Ausdruck des Entsetzens trat auf Phillipes Gesicht, verlangsamt durch die Drogen in seinem Blut, aber offenkundig genug.
»Stimmt’s?«
»Lewis…« Phillipe sah unheimlich alt aus.
»Antworte, Phillipe, ich bitte dich: eh es zu spät ist. Hast du dir einen Affen gehalten?«
»Es war ein Experiment, sonst nichts. Ein Experiment.«
»Wozu?«
»Deine Geschichten. Deine verdammten Geschichten. Ich wollte rausbekommen, ob sie wirklich wilde Bestien sind. Ich wollte einen Menschen draus machen.«
»Einen Menschen draus machen.«
»Und diese Hure…«
»Natalie.«
»Sie hat ihn verführt.«
Es wurde Lewis speiübel. Auf diese Verwicklung war er nicht gefaßt gewesen.
»Ihn verführt?«
»Hure«, sagte Phillipe, mit grenzenlosem Bedauern.
»Wo ist dieser Affe von dir?«
»Du willst ihn ja nur töten.«
»Er ist in die Wohnung eingebrochen, während Catherine zu Hause war. Hat alles zertrümmert, Phillipe. Er ist eine Gefahr - jetzt wo er keinen Herrn mehr hat. Begreifst du das nicht?«
»Catherine?«
»Nein, sie ist okay.«
»Er ist dressiert, er könnte ihr gar nichts antun. Er hat sie beobachtet aus seinem Versteck. Ist gekommen und wieder gegangen. Leise wie ein Mäuschen.«
»Und das Mädchen?«
»Er war eifersüchtig.«
»Also hat er sie ermordet?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Ich will nicht drüber nachdenken.«
»Warum hast du’s ihnen nicht gesagt und die Kreatur beseitigen lassen?«
»Ich weiß nicht, ob es wirklich wahr ist. Wahrscheinlich ist es alles Erfindung, eine von deinen verdammten Erfindungen, bloß wieder eine Geschichte.«
Ein bitteres, verschlagenes Lächeln trat auf sein erschöpftes Gesicht.
»Aber daß wir uns recht verstehn, Lewis. Es könnte doch gut eine Geschichte sein, oder? So eine wie deine Dupin-Erzählungen. Nur daß ich sie womöglich für eine Zeitlang hab’ wahr werden lassen; da drauf wärst du nicht gekommen, oder?
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