Das 1. Buch Des Blutes - 1
seine Stirn heruntergezo-gen, aber seine massige Gestalt war unverkennbar. Catherine hatte ihn ebenfalls gesehen. Lewis, der schützend den Arm um sie gelegt hatte, spürte, wie sie zitterte. Nicht so sehr der Kälte wegen, sondern vor Angst. Es war, als sei das Wesen irgendein schauerlicher Engel, der sich eingefunden hatte, um eine Zeitlang herumzuschweben und sich an ihrem Kummer zu ergötzen. Absurd war es, und unheimlich, daß dieses Geschöpf hierherkam, um dabeizusein, wenn man Phillipe der gefrorenen Erde übergab. Was empfand es? Seelenqual? Schuld?
Ja, empfand es Schuld?
Es registrierte, daß man es gesehen hatte: Es kehrte ihnen den Rücken und schlurfte fort. Ohne ein Wort zu Lewis stahl sich Solal vom Grab davon und nahm die Verfolgung auf. Nach kürzester Zeit waren sowohl der Fremde wie sein Verfolger vom Schnee ausradiert.
Wieder zurück am Quai de Bourbon, erwähnte weder Catherine noch Lewis den Vorfall. Eine Art Barriere war zwischen ihnen aufgetaucht, die Kontakt auf jeder Ebene, außer der unverbindlichsten und banalsten, unmöglich machte. Analysieren hatte keinen Zweck, und Bereu-en ebensowenig. Phillipe war tot. Ihre Vergangenheit, ihre zusammen verbrachte Vergangenheit, war tot. Dieses Schlußkapitel in ihrer beider Leben vergällte alles, was ihm vorausgegangen war, so gründlich, daß man sich an keiner gemeinsamen Erinnerung freuen konnte, ohne schließlich in Verbitterung zu enden. Phillipe war auf grauenvolle Weise gestorben. Er hatte - vielleicht in den Wahnsinn getrieben durch ein nur ihm zugängliches Wissen um seine eigene Schuld und Verworfenheit - sein eigenes Fleisch und Blut verschlungen. Keine Unschuld, keine Chronik der Freuden konnte von dieser Tatsache unbefleckt bleiben. Schweigend betrauerten sie den Verlust nicht nur Phillipes, sondern ihrer eigenen Vergangenheit. Jetzt, angesichts einer Welt, in der solche Verluste möglich waren, fand Lewis Phillipes Abneigung zu leben nur zu begreiflich.
Solal rief an. Noch außer Atem von seiner Jagd, aber in Hochstimmung, redete er flüsternd mit Lewis und genoß offenkundig die Aufregung.
»Ich bin am Gare du Nord und hab’ rausgekriegt, wo unser Freund wohnt. Ich hab’ ihn gefunden, Lewis!«
»Ausgezeichnet. Ich komm’ sofort. Wir treffen uns auf den Stufen vom Gare du Nord. Ich nehm’ ein Taxi: zehn Minuten.«
»Es ist in der Rue des Fleurs Nummer sechzehn, im Souterrain. Wir sehn uns dort…«
»Geh’ nicht rein, Jacques. Wart’ auf mich. Bleib’ ja…«
Es knackte in der Leitung, und Solal war weg. Lewis griff nach seinem Mantel.
»Wer war das?«
Sie fragte, aber sie wollte es nicht wissen. Lewis fuhr hastig in seinen Mantel und sagte: »Gar niemand. Mach’ dir keine Gedanken. Dauert nicht lang.«
»Nimm deinen Schal«, sagte sie, ohne sich nach ihm umzusehen.
»Ja. Danke.«
»Du wirst dich erkälten.«
Schon war er draußen, und noch immer starrte sie unverwandt über die nachtbedeckte Seine hin, sah den Eisschollen zu bei ihrem Reigen auf dem schwarzen Wasser.
Als er bei dem Haus in der Rue des Fleurs ankam, war von Solal nichts zu sehen, aber frische Fußspuren führten durch den Pulverschnee zum Vordereingang der Nummer sechzehn, machten dort kehrt und verliefen sich dann ums Haus nach hinten. Lewis folgte ihnen. Als er durch ein morsches Tor, das von Solal brutal eingedrückt worden war, den Hof auf der Rückseite des Hauses betrat, wurde ihm plötzlich bewußt, daß er keine Waffe bei sich hatte. Am besten besorgte er sich vielleicht erst einmal ein Brecheisen, ein Messer, irgend etwas. Eben als er mit sich zu Rate ging, öffnete sich die Hintertür, und der Fremde erschien, in seinem mittlerweile wohlbekannten Mantel. Lewis drückte sich platt gegen die Hofmauer, dort wo sie im tiefsten Dunkel lag, und war sich sicher, daß man ihn sehen würde. Aber die Bestie war anderweitig beschäftigt. Sie stand unter der Tür, das Gesicht rückhaltlos zur Schau gestellt, und zum ersten Mal konnte Lewis, im vom Schnee reflektierten Mondlicht, die Physiognomie des Geschöpf klar und deutlich erkennen. Sein Gesicht war frisch rasiert; es roch intensiv nach Kölnischwasser, sogar im Freien. Seine Haut war, wenn auch an ein, zwei Stellen von einer unachtsamen Klinge verletzt, pinkfarben wie ein Pfirsich. Lewis fiel das Rasiermesser ein, mit dem es Catherine offenbar bedroht hatte.
War das etwa in Phillipes Zimmer sein Anliegen gewesen: ein gutes Rasiermesser zu entwenden? Es zog Lederhandschuhe über seine breiten
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