Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 1. Buch Des Blutes - 1

Das 1. Buch Des Blutes - 1

Titel: Das 1. Buch Des Blutes - 1 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clive Barker
Vom Netzwerk:
mich einfach sterben… Ich will vergessen, warum versuchst du, mich dran zu hindern? Ich möchte…«
    Er schaute wieder auf. Seine Augen waren blutunterlaufen und von tränenreichen Nächten rotgerändert. Aber jetzt, schien es, waren keine Tränen mehr in ihm vorhanden; nichts als eine dürre Öde, wo einst rechtschaffene Angst vorm Tod, Verliebtheit in die Liebe und Hunger nach Leben gewesen waren. Was Lewis da entgegenblickte, war eine allumfassende Gleichgültigkeit: gegenüber der Fortdauer, gegenüber der Selbsterhaltung, gegenüber jeglicher Empfindung.
    »Sie war eine Hure«, rief er plötzlich aus. Die Hände zu Fäusten geballt. Lewis hatte Phillipe in seinem ganzen Leben keine Faust machen sehen. Jetzt gruben sich seine Nägel in das weiche Fleisch seiner Handfläche, bis Blut zu fließen begann. »Hure«, sagte er wieder, überlaut in der kleinen Gesprächs-Zelle.
    »Machen Sie kein’ solchen Krach«, schnauzte der Wachmann.
    »Eine Hure!« Diesmal fauchte Phillipe die Anschuldigung durch die Zähne, die er fletschte wie ein wütender Pavian.
    Lewis war diese Verwandlung völlig unverständlich.
    »Du hast damit angefangen…« sagte Phillipe und sah dabei Lewis direkt an, erwiderte zum erstenmal voll seinen Blick. Es war eine bitterböse Anschuldigung, obwohl Lewis nicht begriff, was sie besagte.
    »Ich?«
    »Mit deinen Geschichten. Mit deinem verdammten Dupin.«
    »Dupin?«
    »Es war alles erlogen, alles dumme Lügen. Frauen, Mord…«
    »Du meinst die Rue-Morgue-Geschichte?«
    »Du warst so stolz drauf, nicht? All diese dämlichen Lügen. Nichts davon war wahr.«
    »Doch, das war es wohl.«
    »Nein. Das war es nie, es war eine Geschichte, sonst nichts. Dupin, die Rue Morgue, die Morde…«
    Seine Stimme verlor sich, als ob die nächsten Worte unsagbar wären.
    »… der Affe.«
    Das waren die Worte: Das anscheinend Unaussprechliche wurde ausgesprochen, als hätte man ihm jede Silbe einzeln aus dem Hals geschnitten.
    »… der Affe.«
    »Was ist mit dem Affen?«
    »Es gibt Bestien, Lewis. Manche von ihnen sind bejammernswert; Zirkustiere. Sie haben keinen Verstand, sind die geborenen Opfer.
    Und dann gibt es andere.«
    »Was für andere?«
    »Natalie war eine Hure!« kreischte er wieder, seine Augen so groß wie Untertassen. Er bekam Lewis an den Rockaufschlägen zu fassen und begann, ihn zu schütteln. Alle anderen in dem kleinen Raum schauten zu ihnen her: Zwei alte Männer hatten sich, über den Tisch hinweg, in der Wolle. Strafgefangene und ihre Liebsten grinsten, als man Phillipe von seinem Freund wegzerrte. Seine Worte verkamen zu obszönem, zusammenhanglosem Gestammel, während er im sicheren Griff des Wachmanns um sich schlug.
    »Hure! Hure! Hure!« war alles, was er herausbrachte, als sie ihn in seine Zelle zurückbeförderten.
    Catherine empfing Lewis auf der Schwelle zu ihrem Appartement. Sie bebte und kämpfte mit den Tränen. Das Zimmer hinter ihr war verwüstet.
    Schluchzend lag sie ihm an der Brust, während er sie tröstete, aber sie beruhigte sich nicht. Viele Jahre war es her, seit er eine Frau getröstet hatte, und es war ihm absolut entfallen, wie man das macht. Statt besänftigend zu wirken, war er verlegen, und sie spürte das genau. Sie löste sich aus seiner Umarmung; unberührt war es ihr wohler.
    »Er war hier«, sagte sie.
    Er brauchte nicht zu fragen, wer. Der Fremde, der mit den Tränen kämpfende, rasiermesser-schwingende Fremde.
    »Was wollte er?«
    »Er hat ständig >PhilIipe< zu mir gesagt. Oder es nicht eigentlich gesagt, mehr gegrunzt als gesagt. Und als ich ihm keine Antwort gab, hat er einfach die Möbel, die Vasen zerstört. Er suchte nach nichts Bestimmtem, wollte nur alles verwüsten.«
    Das machte sie rasend, diese Nutzlosigkeit der Attacke.
    Das Appartement lag in Trümmern. Kopfschüttelnd schlenderte Lewis durch die Überreste aus Porzellan und zerfetztem Stoff. Vor seinem geistigen Auge ein Durcheinander tränennasser Gesichter: Catherine, Phillipe, der Fremde. Jeder in seiner kleinen Welt, so schien es, war verletzt und gebrochen. Jeder litt. Und doch war der Herd, die Quelle des Leidens nirgendwo zu finden.
    Nur Phillipe hatte einen anklagenden Fingerzeig gegeben: auf Lewis selber. »Du hast damit angefangen.« Waren das nicht seine Worte?
    »Du hast damit angefangen.«
    Bloß wie?
    Lewis stand am Fenster. Drei der schmalen Scheiben waren von herumfliegenden Scherben zerschlagen worden, und ein frostgeifernder Wind schlich sich in das Appartement ein. Er

Weitere Kostenlose Bücher