Das 1. Buch Des Blutes - 1
Möglich, daß ich sie hab’ wahr werden lassen.«
Lewis stand auf. Wirklichkeit und Illusion: eine ebenso sinnlose wie abgedroschene Debatte. Entweder etwas existierte, oder es existierte nicht. Das Leben war kein Traum.
»Wo ist der Affe?« wollte er wissen.
Phillipe deutete auf seine Schläfe.
»Hier. Wo du ihn niemals finden kannst«/ sagte er und spuckte Lewis ins Gesicht. Der Speichel landete auf seiner Lippe, wie ein Kuß.
»Du weißt nicht, was du angerichtet hast. Du wirst es niemals wissen.«
Lewis wischte sich die Lippe ab, während die Wachmänner den Häftling aus dem Zimmer hinaus und zurück in sein glückliches drogenbetäubtes Vergessen geleiteten. Das einzige, was ihm jetzt, allein gelassen in dem kalten Gesprächszimmer, durch den Kopf ging, war, daß Phillipe es leicht hatte. Er hatte zu vorgetäuschter Schuld Zuflucht genommen und sich in ein Nirwana weggeschlossen, in dem Erinnerung und Rache, und die Wahrheit, die wilde, marodierende Wahrheit ihm niemals wieder etwas anhaben konnten. Er haßte Phillipe in diesem Moment von ganzem Herzen. Haßte ihn als den Dilettanten und Feigling, der er in seinen Augen immer gewesen war.
Es war keine schonungsvollere, freundlichere Welt, die Phillipe um sich herum errichtet hatte; sie war ein Versteck, letztlich genauso eine Lüge, wie jener Sommer 1937 eine gewesen war. Keiner konnte sein Leben so leben, wie er es getan hatte, ohne daß ihm früher oder später die Rechnung präsentiert wurde. Und jetzt war es so weit.
In dieser Nacht erwachte Phillipe in der Sicherheit seiner Zelle. Es war warm, aber ihm war kalt. In äußerster Dunkelheit kaute er an seinen Handgelenken, bis ihm das Blut pulsierend in den Mund schäumte. Er legte sich auf sein Bett zurück und spritzte und sprudelte zum Tod davon, aus den Augen und aus dem Sinn.
Über den Selbstmord berichtete Le Monde in einem kurzen Artikel auf der zweiten Seite. Die große Nachricht des folgenden Tages jedoch war der aufsehenerregende Mord an einer rothaarigen Prostituierten in einem kleinen Haus unweit von der Rue de Rochechquant. Monique Zevaco war um drei Uhr morgens von ihrer Zimmergenossin gefunden worden; ihr Körper befand sich in einem so grauenhaften Zustand, daß er »jeder Beschreibung zu spotten« schien.
Trotz der angeblichen Undurchführbarkeit der Aufgabe machten sich die Medien mit morbider Entschlußkraft daran, das Unbeschreibliche zu beschreiben. Noch der letzte Kratzer, Riß, die letzte blutige Druckstelle auf Moniques teilweise nacktem Körper - mit einer Karte Frankreichs tätowiert, frohlockte Le Monde ~ wurde detailliert festgehalten. Genauso freilich die Erscheinung von Mademoiselle Zevacos gut angezogenem, überparfümiertem Mörder, der sie offensichtlich durch ein kleines rückseitiges Fenster bei ihrer Toilette beobachtet hatte, dann eingebrochen und im Badezimmer über sie hergefallen war.
Anschließend war der Mörder über die Treppe geflohen und dabei mit der Wohnungsgenossin zusammengestoßen, die gleich darauf Mademoiselle Zevacos verstümmelten Leichnam entdecken sollte. Nur ein einziger Kommentator stellte überhaupt eine Verbindung her zwischen dem Mord in der Rue des Martyrs und der Abschlachtung von Mlle. Zevaco; aber auch er ging mit keiner Silbe auf den merkwürdigen Zufall ein, daß der unter Anklage stehende Phillipe Laborteaux sich in ebenderselben Nacht das Leben genommen hatte.
Die Beisetzung fand während eines Sturms statt. Bejammernswert schob sich das Trauergefolge, dem der herabpeitschende Schnee schon ab wenigen Metern völlig die Sicht nahm, durch die verlassenen Straßen Richtung Montparnasse voran. Lewis saß neben Catherine und Jacques Solal, als sie Phillipe zur ewigen Ruhe betteten. Jeder aus seinem Freundeskreis hatte ihn im Stich gelassen; sie wollten der Beerdigung eines Selbstmörders und mutmaßlichen Mörders nicht beiwohnen. Sein Esprit, sein gutes Aussehen, sein unerschöpflicher, stets wirksamer Charme zählten rein gar nichts am Ende.
Von Fremden aber blieb er, wie sich herausstellte, nicht gänzlich unbetrauert. Als sie am offenen Grab standen und die Kälte sich in sie verbiß, rückte Solal an Lewis heran und stupste ihn.
»Was?«
»Da drüben. Unter dem Baum.« Mit einem unauffälligen Kopfnicken wies Solal über den betenden Priester hinaus.
Der Fremde stand in einiger Entfernung, von den marmornen Grabmälern fast verdeckt. Ein dicker schwarzer Schal war um sein Gesicht geschlagen und ein breitkrempiger Hut über
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